Anfang Oktober 1992, vor nunmehr über 22 Jahren, zogen die letzten russischen Soldaten des 2289. ASB (АСБ – Aртиллерийский Cклад Боеприпасов – Artillerie-Munitions-Lager), Feldpostnummer в/ч 32440, aus Altenhain ab. Für die meisten begann eine lange, entbehrungsreiche Odyssee mit ungewisser Zukunft in Russland. Wo sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurden. Beinahe ruhmlos verließen die einstigen Sieger das geeinte Deutschland. Doch vielen blieben gute Erinnerungen: Manch einem wurden hier Kinder geboren, Freundschaften begannen. Und einige der Soldaten besuchten in den vergangenen Jahren hin und wieder Altenhain.
Mit einem dieser Soldaten, der gerade auf Besuch bei sehr guten Freunden war, konnten Mitglieder der Arbeitsgruppe Ortsgeschichte des Altenhainer Heimatvereins am 1. November 2011 ein überaus interessantes Gespräch führen. Selbst wenn die russischen Redewendungen „Добрый вечер – Большое спасибо – До свидания!“ (Guten Abend – Vielen Dank – Auf Wiedersehen!) – und natürlich das obligatorische „Na starowje!“ – wohl an diesem Abend die einzigen Vokabeln waren, die die Mehrzahl der anwesenden geschichtsinteressierten Deutschen noch völlig ohne Probleme beherrschte. Mit Hilfe von Hans Barthel, wieder eingefallenen Worten, anhand von Fotos und Dokumenten sowie „mit Händen und Füssen“, gelang es dennoch, einem der letzten Kommandeure der ehemaligen Garnison Altenhain einen Fragekatalog zu stellen. Natürlich nahm man auch die Gelegenheit wahr, ihm die in der Alten Schule ausgestellten ortshistorischen Exponate zu zeigen.
Iwan Iwanowitsch Kaleda, Jahrgang 1944 und heute im weißrussischen Minsk lebend, diente von Oktober 1987 bis Oktober 1991 in Altenhain. Hier war der Oberst dienstranghöchster Offizier. Und Kommandeur einer Einheit, die in den vergangenen 2 Jahrzehnten seit ihrem Abzug 1991 immer gut war für Gerüchte, Legenden und Halbwahrheiten: Der 11. beweglichen raketentechnischen Basis (11. подвижная ракетно-техническая база). Im Militärjargon kurz BRTB (ПРТБ) benannt.
Oberst Iwan I. Kaleda (3. von links), ehemaliger Kommandeur der 11. ПРТБ Альтенхайн, im Gespräch mit Mitgliedern der AG Ortsgeschichte. (Foto: Volker Killisch)
Seit Anfang der 1960er Jahre stationierte diese in dem waldreichen, mehrfach umzäunten und nachts taghell beleuchteten Gelände. Die Einheit mit der Feldpostnummer в/ч 11817 und dem Tarnnamen „основание (Grund bzw. Gründung)“, trug zwar weder einen Namen noch einem Gardetitel, war aber dennoch eine überaus wichtige Stütze der Artillerie-Raketentruppen der ehemaligen Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Die BRTB war, ebenso wie das umgebende eigentliche Munitionslager, der 8. Gardearmee mit Stabssitz in Nohra bei Weimar unterstellt.
Der Stabs- und ein Teil des technischen Bereiches der 11. BRTB aus der Luft gesehen. (Foto: Jürgen Heinze)
Zu den Aufgaben der Truppe zählte die technische Sicherstellung und Versorgung der in Weißenfels und Jena-Forst stationierten 11. Raketenbrigade dieser Armee mit Raketen, Gefechtsköpfen, Treibstoffen, Komplettierungselementen und der zugehörigen Bodenausrüstung. Dazu gehörten auch Instandsetzungsarbeiten sowie entsprechende Überprüfungen und Nachweisungen. Öfter mussten Kontaktstellen der elektrischen und elektronischen Raketenbauteile entrostet oder gewechselt werden. Im Rhythmus einiger Jahre sowie bei notwendigen größeren Instandsetzungsarbeiten wurden die Raketen in die Sowjetunion überführt. Von dort kam auch der Nachschub. Oberst Kaleda berichtete über eine ungewöhnliche Maßnahme zur Tarnung dieser Transporte: In umgebauten Eisenbahnwaggons – die äußerlich Personenwagen glichen, gar mit Gardinen behangenen Fenstern – wurden diese auf ihrem weiten Weg befördert!
Die zunächst in den ehemaligen deutschen und für den neuen Zweck umgebauten Munitionsarbeitshäusern gelagerten einstufigen Kurzstrecken-Raketen gehörten zum Typ „8K14“ (R-17). Die NATO benannte die mit diesen operativ-taktischen Raketen von bis zu 300 km Reichweite bestückten Raketenkomplexe „SS-1c“ oder „Scud-B“. Letztere Bezeichnung erlangte größere Bekanntheit durch die Verwendung dieses Raketentyps durch Saddam Husseins irakische Armee in den „Golfkriegen“ der 1990er Jahre.
Der Raketenkomplex mit der Rakete 8K14 auf MAZ-543-basierter Startrampe, hier bei einer Parade in der Sowjetunion, wurde 9K72 “Elbrus” bezeichnet.
(Foto: Sammlung Dirk Reinhardt)
Neue Handlungsrichtlinien, die mit einer geänderten Militärdoktrin einhergingen bzw. die Reaktion auf neue Einsatzplanungen der NATO-Streitkräfte darstellten, sowie zahlenmäßig erweiterte Technik, führten (bis) Anfang der 1980er Jahre auch in Altenhain zum Bau eines neuen Lagerbereiches. So entstand hier die sogenannte „Raketenhalle“. Erdüberdeckt, etwa 73 m lang und 18 m breit, bot dieses Bauwerk aus Betonfertigteilen mit der Typbezeichnung “УГ-30/8” zwölf Raketenfahrzeugen vom Typ MAZ-543 bzw. gleichvielen Sattelschleppern SIL-157 mit den darauf verlasteten Raketen geschützte Unterstellmöglichkeit. Auch in den benachbarten Lagergebäuden standen weitere derartige Fahrzeuge.
Oben: Der für Raketenobjekte typische Betonbau “УГ-30/8”, in Altenhain mit 12 Toren, kurz nach dem Abzug im Herbst 1992 fotografiert.
Unten: Blick in das Innere der beheiz- und belüftbaren sogenannten „Raketenhalle“. (Fotos: Sammlung Dirk Reinhardt)
Der genannte Einsatz der irakischen Scud-Raketen erfolgte mit konventionellen Gefechtsköpfen. Hierbei offenbarte sich den westlichen Militärs allerdings ebenso die eingeschränkte Treffsicherheit. Die sowjetische Armeeführung hatte aber wohl bereits Jahrzehnte zuvor der möglichen Bestückung mit konventionellen Gefechtsköpfen in den angenommenen Szenarien des „Kalten Krieges“ keine größere Bedeutung zugedacht. Möglich erschien lediglich der Einsatz von Kampfstoff- und Kassetten-Gefechtsköpfen. Am „effektivsten“ jedoch wurde die Bestückung mit nuklearen Sprengköpfen angesehen. Und davon gab es verschiedene, von 5 bis 50 Kilotonnen TNT-Äquivalent Sprengkraft (Die Hiroshima-Atombombe hatte „nur“ 13 Kt!). Der Einsatz dieser Waffen auf dem europäischen Kriegsschauplatz, hätte aber den Atomkrieg über die ganze Erde gebracht. Es kam glücklicherweise nicht soweit. Glasnost und Perestroika in der Ära Gorbatschow setzten diesem Treiben beider (!) Seiten ein „Halt!“.
Es war unter anderem diese etwa dreißig Jahre in Altenhain vorgehaltene Waffentechnik, die Kontakte der sowjetischen Soldaten mit den hiesigen Einwohnern erschwerte. Einfachen Soldaten war sogar der Ausgang ins Dorf verboten. Bis auf sehr wenige Urlaubsfahrten in die Heimat, gelegentlichen Gruppenausflügen, Arbeitseinsätzen oder sportlichen Veranstaltungen in der näheren Umgebung, kamen diese während ihres zweijährigen Dienstes aus der Garnison fast überhaupt nicht heraus. Selten waren auch Besuche von Deutschen, meist aus Anlass von Feiertagen oder anderen „gesellschafts-politischen Gründen“. Obwohl offiziell immer propagiert, konnten sich auf diese Art wahre Freundschaften kaum entwickeln. Einige wenige Ausnahmen (selbst wenn auch dies nicht gern gesehen war) gab es dagegen bei Offizieren und Unteroffizieren sowie deren Ehefrauen. Jene waren etwas häufiger im Ort – einige wohnten zeitweilig im Schloss, andere arbeiteten in den umliegenden Betrieben, kauften in deutschen Geschäften ein oder besuchten die Gaststätte…
Spätestens an dieser Stelle war für Deutsche der Weg meistens zu Ende! Nur wenige gelangten zu offiziellen Treffen oder nötigen Instandhaltungsarbeiten in die Garnison. (Foto: Andreas Klöthe, 1992)
Unten: Eine Altenhainer Schulklasse etwa um 1978 „zu Besuch bei Freunden“ in der benachbarten Garnison. (Foto: Andrè Milich)
Im Oktober 1991 musste Oberst Kaleda mit seinen Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren sowie deren Familienangehörigen aus Altenhain abziehen. So schnell als möglich wollte das geeinte Deutschland die früheren „Freunde, Brüder und Befreier“ loswerden. Bei Maikop, einer Stadt im südlichen Russland, etwa 1250 km von Moskau entfernt, wurde ein neuer Stationierungsort bezogen. Doch was die Truppe dort vorfand, spottete jeder Beschreibung! Es gab weder ausreichende Unterkünfte, noch war die Versorgung mit den benötigten Dingen (Wasser, Strom, Nahrungsmittel usw.) gewährleistet. Es gab eine Rattenplage, aber keine Toiletten, keine Einrichtungen für die Kinder der Offiziers-Familien – nichts! Improvisieren und „Organisieren“ war für die nächsten Jahre angesagt. Die mitgebrachten Zigarettenstangen tauschte man gegen Lebensmittel ein. Dabei immer mit dem Wissen im Kopf, Vater Staat (auf Russisch: „Mütterchen Russland“) könnte die Soldaten jederzeit zu irgendeinem Kriegschauplatz schicken. Wie etwa in das benachbarte Tschetschenien… Mit Wehmut dachten die Soldaten dann an ihr Leben in Altenhain zurück.
Als Iwan Iwanowitsch Kaleda schließlich pensioniert wurde, zog er mit seiner Familie nach Minsk. Altenhain und seine Freunde, die er hier vor 25 Jahren kennen lernte und seitdem so oft wie möglich besucht, sind aber – wie er selbst überzeugend sagt – zu seiner „zweiten Heimat“ geworden.
Die langjährige Freundschaft zwischen Oberst Iwan Iwanowitsch Kaleda und “Bürgergarten”-Inhaber Hans Barthel sowie ihren Ehefrauen fand auch Verewigung auf einer Ansichtskarte, die Anfang der 1990er Jahre verlegt wurde. (Sammlung Dirk Reinhardt)
Hallo in die Runde! Ich lese und schaue mir oft Berichte, Kommentare und Videos an zu oben angeführtem Thema. Ehrlich! immer tue ich das mit einer unendlichen Wehmut, oder besser: mit tiefer Trauer ! Die Söhne und Enkel derer, die für den Sieg über den Hitlerfaschismus ihr Leben geopfert haben, und nun teils mit Stolz ihren Militärdienst in der Westgruppe der Sowjetarmee leisteten – und das auch im Glauben an Gerechtigkeit und Pflichtgefühl – um nun beim Aufbau der DDR willkommen und nützlich zu sein – die wurden nicht hinauskomplimentiert, nein, die wurden regelrecht des Landes verwiesen. Pfui Teufel!
Man könnte ja sagen, das wäre nicht als Dauerzustand geplant, ja, dann hätte doch mindestens in der BRD der Abzug der Westalliierten, sprich Amerikaner, auf dem Fuß folgen müssen !! Und, vielleicht wäre aus dieser Konstellation der Weg zu einer souveränen Republik ganz leicht möglich gewesen.
Ich bin Jahrgang 1944, Schule, Berufsausbildung, Militärdienst bei der NVA und dann Berufsleben. Ich und viele andere hatten keinen Grund zur Klage. Daß leider auch gravierende Fehler gemacht wurden, aber auf dem Weg zu einem ganz anderen Deutschland, ohne Beispiel, außer der Sowjetunion…..
Wenn wir jetzt bei Fehlern sind, laßt mich nicht die Fehler der jetzigen Politik aufzählen. Außerdem haben die immer noch nicht mit der alten Liga Schluß gemacht,
haben noch das alte BGB von 1876 und kommen nicht mal mit unserem grünen Rechtsabbiegepfeil zurecht. Über Schulbildung wollen wir nicht reden. Für Abitur brauchen sie 13 Jahre und Note “Fünf” reicht nicht – die brauchen noch “Sechs”.
Bitte, noch etwas zu unseren “Freunden”. Meine Freunde waren sie auf alle Fälle. Gemeinsame Arbeit, Freunde und Aufenthalte in der damaligen SU, aber auch heute noch in Rußland und Belarus.
Leider wurde die DSF etwas zu dogmatisch gehandhabt. Aber das von beiden Seiten. Nach wie vor waren die Sowjetsoldaten in Deutschland, der ehemalige Feind, und leider gab es auch noch genug Leute, die ihren Haß unverhohlt zum Ausdruck brachten.
Aber auch von unserer Seite blieb es mehr oder weniger bei Schülerbesuchen. Ich würde sagen, teils ganz schön verklemmt.
Das wäre mein Beitrag dazu. Es ist Geschichte und die ist nicht reparabel, traurig nur, daß die Menschheit unfähig ist, daraus zu lernen !!!
Ich habe mir Fotos angeschaut und Artikel gelesen und mir das Herz eingeklemmt. Schließlich gehöre ich zu den letzten, die Altenhain mit Ivan Ivanovic Kaleda verlassen haben.Nach meiner Ankunft in Maikop hatte ich, ehrlich gesagt, lange Zeit eine Sehnsucht nach Deutschland, die mir in ihrem Geist und ihrer Ordnung nahe ist. Ich bin jetzt 65 Jahre alt und habe frische Erinnerungen an das Leben und den Dienst in Altenhain. Ich würde mich freuen, mit meinen Kollegen zu sprechen. Teljatnikov Sergej Andrejewitsch
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