Strategisches Gleis Trebsen
– Pläne und Realitäten –
Schon immer wurden zu allem Möglichen Pläne geschmiedet. Manche kühn und phantasievoll, andere abstrus und weltfremd. Meist wurden sie aus finanziellen Gründen nicht verwirklicht. Und wenn doch aus einem Plan endlich Realität wurde, dann oft nur in kleiner Ausgabe. In unserer Region war das nicht anders! Und so spielte denn die geographische Lage Trebsens immer mal wieder eine bedeutende Rolle in strategischen Überlegungen und Planspielen. Sehr oft standen diese im Zusammenhang mit der hiesigen Eisenbahnsituation.
Die Lage der Strecke Beucha-Trebsen im Eisenbahnnetz der Deutschen Reichsbahn. Hier im Jahr 1939. (Quelle: http://igrek.amzp.pl/details.php?id=11770058)
Schon kurz nach Bekanntgabe der Entscheidung, die zur Bauausführung bestimmte Eisenbahnlinie Beucha – Altenhain nach Seelingstädt und den dortigen Steinbrüchen zu verlängern, kam ein Gedanke auf, diese doch gleich bis Grimma fortzusetzen. Und nicht zur Mulde bei Trebsen bzw. darüber hinaus. Selbstverständlich war es kein Trebs’ner, der diese Idee zuerst in einem „Eingesandt“ (der Leserbriefecke der damaligen „Nachrichten für Grimma und Umgebung“) am 20. Oktober 1897 äußerte!
So stellte sich die Ausgangssituation um 1898 auf einer “Karte für die Herbstübungen des XIX. (2. K. S.) Armeekorps 1907” (Hrsg. Abteilung für Landesaufnahme des Königl. Sächs. Generalstabes) dar. (Sammlung Dirk Reinhardt)
Später, inzwischen war über 50 Jahre lang viel, viel Wasser die Mulde abwärts geflossen, wurde dieser Gedanke wohl erneut aufgegriffen – glaubt man den Erzählungen älterer Zeitgenossen. Auslöser sollen die seit Kriegsende 1945 bei Grimma unterbrochene Muldentalbahn und die zu jener Zeit wachsenden logistischen Beziehungen Trebsens in Richtung Grimma (die eisenbahntechnisch allerdings über den „Umweg“ Beucha abgewickelt werden mussten) gewesen sein.
Entgegen den Überlegungen von 1897 kam es nun anscheinend jedoch zu ernsthafteren Planungen. So sollte aus Richtung Trebsen, ausgehend vom Hauptgleis, in Höhe des Colmberges ein Verbindungsgleis nach Süden drehen und in das vom Westen, vom Bahnhof Seelingstädt, kommende Anschlussgleis der Hengstbergsteinbrüche einmünden. Von diesem dabei entstehenden „Gleisdreieck“ (auch Spitzkehre genannt) aus war angeblich vorgesehen, die Bahn weiter über die Schienen des Steinbruchs bis Hohnstädt zu führen. Von dort sollte die Bahn, ähnlich der heutigen Umgehungsstraße, weiter zum Oberen Bahnhof Grimma verlaufen und in diesen einmünden…
Dass der erste Teil dieses Vorhabens – das Gleisdreieck nordöstlich Seelingstädts – bereits vermessen und projektiert wurde, bezeugt eine im Besitz des Autors befindliche Karte. Doch in einem offenbar damit in Verbindung stehenden Dokument vom August 1957 ist unter dem Betreff „Erweiterung der Anschluß-Gleisanlage am Bahnhof Seelingstädt“ nur zu lesen: „Infolge Mechanisierung des VEB Hartsteinwerk Hohnstädt wird eine Erweiterung der Gleisanlage notwendig… Lageplan ‚Erweiterung des Bahnhofes Seelingstädt’ Blatt Nr. 6… im Plan ersichtliche Spitzkehre“.
Der einzige bisher bekannte Lageplan (vom September 1957), der die projektierte neue Eisenbahntrasse in Richtung Steinbruch Hohnstädt/Grimma beweist. (Originalplan: Sammlung Dirk Reinhardt)
Es hat also den Anschein, dass zwischen den Schwestersteinbrüchen am Hengst- und am Colmberg „nur“ ein zusätzliches Bahngleis zur Erleichterung der steigenden Rangierarbeiten errichtet werden sollte. Allerdings kam auch diese zweite und wahrscheinlichere Version letztlich nicht zur Ausführung. Entweder waren die finanziellen Mittel dafür nicht vorhanden oder es hatten sich andere Sichtweisen durchgesetzt? Leider ist hierzu nichts Weiteres überliefert. Was war damals wirklich geplant?
Man darf spekulieren, was bei der ersten Version – einer direkten Bahnverbindung Trebsen–Grimma – geworden wäre. Womit wir zum Wunsch eines Eisenbahnbrückenschlags nach Neichen kommen.
Schon viele Jahrzehnte bevor am 1. Oktober 1911 endlich die letzten drei Kilometer der Bahnstrecke bis Trebsen in Betrieb gingen, bestand der Wunsch, das am gegenüberliegenden Ufer der Mulde befindliche Neichen mit einer Eisenbahnbrücke zu erreichen. Trotz mehrfach bestätigter Aussichtslosigkeit und angenommener Undurchführbarkeit, verschwand diese Idee nie ganz aus den Köpfen. Ab und an wurde sie auch öffentlich wiederholt, nach 1911 war es 1936 wieder einmal soweit: Angestachelt von den großen Plänen der dafür hinlänglich bekannten Nationalsozialisten, fanden sich auch etwas kleinere Versionen in unserer Region.
So richtete denn am 26. Mai 1936 der damalige Oschatzer Amtshauptmann (Landrat) Dr. Oesterhelt ein diesbezügliches Gesuch an die Reichsbahndirektion Dresden. Zugleich „im Namen der Amtshauptmannschaft zu Grimma und der gesamten Wirtschaftskreise der Bezirke Oschatz und Grimma“ sprechend, schlug er die Umspurung der Kleinbahn Neichen – Oschatz auf Normalspur und mittels Bau einer Muldenquerung deren anschließende Einmündung in die Bahnlinie Trebsen – Beucha vor.
„An der Rentabilität der neuen Vollspurbahnlinie Oschatz – Mügeln – Neichen-Zöhda – Beucha – Borsdorf – Leipzig ist nicht zu zweifeln“, schrieb Oesterhelt als Begründung für die gewünschte Verbindung, die angeblich dem gestiegenen Reise- und Ausflugsverkehr nach der betroffenen Region sowie einem wirtschaftlicheren Güterumschlag Rechnung tragen sollte. Gleichzeitig lieferte der Landrat noch ein Finanzierungsmodell hinterher: „Da die Bauarbeiten als Notstandsarbeiten gemäss den Erlassen des Herrn Reichsarbeitsministers durchzuführen sein werden, wird die Finanzierung aus den Unterstützungsmitteln oder den Sondermitteln der Reichsanstalt zur Arbeitsbeschaffung erleichtert werden können.“
Doch ganz so einfach war es dann wohl doch nicht. Und auch die RBD Dresden lehnte das Bauprojekt ab, weil die Schmalspurbahn alle Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit erfülle. So war es denn bereits im darauffolgenden Jahr wieder still um diese Idee geworden. Vermutlich auch deshalb, weil inzwischen die Planungen zur Fortsetzung der Reichsautobahn Halle-Leipzig nach Dresden zur Bauausführung gelangten…
Was den Hitler-Getreuen, trotz nahezu unbegrenzter Machtfülle und aller strategischer Vorausschau nicht gelingen sollte, wurde etwa 40 Jahre später fast Realität. Wieder waren strategische, diesmal aber rein militärische Gründe in den Köpfen der Soldaten des „Kalten Krieges“ ausschlaggebend.
Schon im Zweiten Weltkrieg hatte sich gezeigt, dass die angloamerikanischen Luftstreitkräfte, neben Hydrier- und anderen Rüstungswerken, vor allem auch das Eisenbahnnetz angriffen, um die deutsche Wirtschaft nachhaltig zu schwächen und Truppenbewegungen zu blockieren. Im Falle einer möglichen Auseinandersetzung zwischen der NATO und den Warschauer-Vertrags-Mitgliedern wurde Ähnliches nun ebenso erwartet. Nicht ohne Grund wurden ab 1950 in den Ländern westlich des „eisernen Vorhangs“ viele Eisenbahnstrecken nur für einen militärstrategischen Zweck weiter ausgebaut oder aufrechterhalten. Östlich der deutsch-deutschen Grenze wurden die entsprechenden Planungen allerdings über das normale Maß hinaus ausgedehnt. Ab den 1970er Jahren unterzog man alle neuralgischen Verkehrsknotenpunkte des ostdeutschen Teils des so genannten „europäischen Kriegsschauplatzes“ einer neuen Bewertung. Im Ergebnis wurde beschlossen, zur Aufrechterhaltung der Militärtransporte in Verteidigungs- und Angriffsoperationen auf den Marschstraßen und Schienenwegen, alle durch feindliche Maßnahmen gefährdeten Verkehrsknoten mit Umgehungstrassen sicherzustellen. Dazu wurde auch die „Dopplung“ wichtiger Flussübergänge der Haupt- und Nebenstrecken der Deutschen Reichsbahn sowie des Straßennetzes an Oder, Neiße, Havel, Elbe und Mulde geplant.
Für die DDR – die hierbei nur als „Handlanger“ der Sowjetunion, als der Führungsmacht des Warschauer Paktes, fungierte – und unsere unmittelbare Region bedeutete dies, zum Muldenübergang Wurzen eine Brückendublierung zu schaffen. Dieser so genannte „Eisenbahnersatzübergang“ war 10 Kilometer südlich bei Trebsen/Neichen vorgesehen (Eine ähnliche Maßnahme wurde übrigens auch für den Muldenübergang Eilenburg, nördlich bei Cospa/Mörtitz, in Angriff genommen).
Ab Ende der 1970er Jahre projektierte die Rbd Halle/Saale im Auftrag des Ministeriums für Verkehr der DDR diesen „Eisenbahnersatzübergang“. Spätestens am 5. März 1980 lag die Planung für das Zuführungsgleis vor. Für das auch als „strategische Kurve“ bezeichnete Gleis – offiziell wurde es „Verbindungsgleis Trebsen“ benannt – sah man einen insgesamt 5 km langen, eingleisigen, nicht elektrifizierten und ohne Hochbauten auskommenden Bahnkörper vor, der alle Wege und Straßen niveaugleich kreuzen sollte.
Ausgehend vom Bahnhof Trebsen, die Wiesen und Felder am Fuße des Wedniger Colms durchschneidend und entlang der heutigen Klärteiche geführt, sollte es nach etwa 3 km die Mulde erreichen. Von hier aus war, mit einer im Kriegsfall zu errichtenden Behelfsbrücke, die Flussüberquerung geplant. Am gegenüberliegenden Ufer sollte die Bahn dann zwischen Nerchau und Neichen in das Reststück der Muldentalbahn nach Wurzen einmünden…
Das strategische Gleis (rot hervorgehoben) führte vom Trebsener Bahnhof in Richtung Südosten, vorbei an Pauschwitzer Gärten und Wedniger Feldern, um hinter den “Klärteichen” die Mulde zu queren. Dazu sollte im Ernstfall eine Behelfsbrücke dienen. (Sammlung Dirk Reinhardt)
Das ausgeführte Planum des strategischen Gleises ist auf dem Luftbild von 18. März 1990 deutlich zu erkennen. (Foto: Sammlung Dirk Reinhardt)
Die bauliche Ausführung der Brückendublierung war ursprünglich ab 1982 bis 1984 geplant, verzögerte sich aber aus bisher unbekannten Gründen. Verantwortlich für die Arbeiten war das Eisenbahnpionierbauregiment „Erich Steinfurth“ in Walddrehna.
Am 25. März 1968 hatte der Nationale Verteidigungsrat der DDR, unter anderem, „für die militärische Transportführung und technische Sicherstellung der Eisenbahnlinien und Straßen des Großraumnetzes“ die Aufstellung von „Basiseinheiten zur technischen Sicherstellung“ beschlossen. 1969 unterzeichnete der DDR-Verkehrsminister die Vertrauliche Dienstsache „Bildung von Eisenbahnbautruppen in der Deutschen Reichsbahn“. Anfang 1971 wurde in Walddrehna das Eisenbahnpionierbauregiment (EbPiBauR-2) aufgestellt. Walddrehna war eine gemeinsame Dienststelle der Nationalen Volksarmee und der „Zentralstelle Bahnanlagen“ der Deutschen Reichsbahn, denn das Besondere daran war, dass die Formierung, Ausbildung und Führung dieses Truppenteiles nicht dem Verteidigungs- sondern dem zivilen Ministerium unterstand. Das Ministerium für nationale Verteidigung erarbeitete lediglich die Rahmenbedingungen und sorgte für die personelle Sicherstellung, Ausrüstung, Mobilmachung sowie für den Gefechtseinsatz. Im gemeinsamen Stab aus NVA-Offizieren und oberen Dienstgraden der DR wurden die militärstrategischen Baumaßnahmen für das Reichsbahn-Streckennetz erarbeitet, die dann von den Eisenbahnbautruppen ausgeführt wurden.
Anfang November 1982 ordnete das Ministerium für Verkehrswesen an, dass 1983 mit der Erdbaukompanie des Eisenbahnbrückenbaubataillons beim Bauvorhaben Trebsen eine taktische Übung durchzuführen sei. So begannen am 7. März 1983 die Arbeiten am „strategischen Gleis“. Eine Chronik der Eisenbahnbautruppen vermerkt, dass bei dieser Übung ein 2,6 km langes und im Überschwemmungsgebiet der Mulde bis zu 2 m hohes Planum mit einem schmalen Durchlass als Hochwasserabfluss fertig gestellt wurde. Anschließend stellten die – laut eines Zeugen – unter der Führung eines Majors stehenden Eisenbahnbautruppen durch den Einbau einer Weiche die Einbindung an den Bahnhof Trebsen (am km 16,25 BT) her und verlegten etwa 250 m Gleis auf der neuen Trasse.
Im Folgenden wurden bereits fertig montierte Gleisjoche, die für ein Vorstrecken des Gleises bis zur Mulde ausgereicht hätten, per Eisenbahn geliefert und im Bahnhofsgelände abgelagert. Hier lagen diese nun, auf ihren Einbau wartend, die nächsten Jahre. Auf dem nachstehenden Foto sind diese rechts erkennbar. Nebenbei macht das Bild das DDR-Typische deutlich: Während wegen fehlender Finanzen der Trebsener Lokschuppen nach einem Brandschaden nicht wieder instand gesetzt wurde sowie die Dampflok 44 1614 gar für „niedere Heizdienste“ in der sozialistischen Mangelwirtschaft herhalten musste, war für militärische Vorhaben meist alles vorhanden.
Dampflok 44 1614 wartet nach einem Heizlokdienst in der Trebsener Papierfabrik in den 1980er Jahren vor dem nur noch zur Hälfte vorhandenem Lokschuppen. Rechts davon lagern bis auf Höhe des Empfangsgebäudes die Gleisjoche für das Verbindungsgleis zum Muldeersatzübergang. (Foto: Frank Patzsch)
Ähnlich stellte sich die Situation auf der gegenüberliegenden Muldeseite dar. Hier lagerten die Gleisjoche für das östliche Zuführungsgleis und die Abzweigweiche im Gelände des Bahnhofs Neichen. Etwa 1,5 km südlich davon sollte das „strategische Gleis“, dessen Planum vom östlichen Muldeufer aus in einer Länge von 300 m und mit einer Steigung von 18,4 Promille im Jahr 1984 ausgeführt worden war, in die Strecke Wurzen-Golzern einmünden.
Erst bei militärischer Notwendigkeit sollte die eigentliche Flussüberquerung mit dem Eisenbahn-Straßen-Brückengerät ESB-16 hergestellt werden. Dieses Anfang der 1970er Jahre entwickelte System setzte sich aus mehreren genormten Überbauten und den dazugehörigen Stützkonstruktionen zusammen. Ein Überbau-Brückenelement bestand dabei aus zwei verbundenen Hauptträgern (einzellige Stahl-Hohlkästen mit einer darauf angebrachten Schiene) über deren Abstand untereinander entweder die deutsche 1435-mm-Spur oder die russische 1524-mm-Breitspur einstellbar waren. Dazwischen wurden Fahrplanplatten eingelegt, über die Straßenfahrzeuge aller Art die Konstruktion befahren konnten. Jedes Überbauelement hatte eine Stützweite von 16 m und wog 32 Tonnen. Die in der Höhe variabel aufbaufähigen Stahlstützen wurden dabei auf Fußplatten auf dem Flussuntergrund aufgesetzt. Zur Errichtung dieser Baukasten-Brücke diente der aus sowjetischer Produktion stammende Eisenbahnkonsolkran SRK-50. Ein interessantes, zeitgenössisches Video vom Bau einer solchen Flussüberquerung können Sie sich hier anschauen.
Zur Überbrückung der Mulde waren insgesamt 9 Felder des ESB-16 vorgesehen, was einer Länge von 144 m entsprach. Die für die Behelfsbrücke benötigten Felder sowie weitere 3 als Reserve lagerten am Bahnhof Lüptitz (Nebenbahnstrecke Wurzen-Eilenburg). Als Normzeit zur Montage und Einsetzens eines Feldes waren 90 Minuten angesetzt. Das bedeutet, dass der Ersatzübergang Trebsen im militärischen Ernstfall innerhalb von 13,5 Stunden hätte fertig gestellt werden können. Die Durchlassfähigkeit einer solchen Dublierung wurde bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h mit 24 Zugpaaren täglich angegeben.
Jedoch setzten die politischen Umwälzungen in der DDR ab 1989 unter dieses militärische Treiben einen Schlussstrich. Einer zivilen Nutzung stand nichts entgegen. Allerdings – die Planungen hierzu hatten auch schon wesentlich früher eingesetzt. Dies beweist schon die Tatsache, dass das „Verbindungsgleis“ eine „zivile Streckennummer“ der Deutschen Reichsbahn bekommen hatte. Die DR führte die Phantom-Strecke Trebsen – Neichen unter der „Nr. 6914“.
Die Phantom-Strecke Trebsen-Neichen erhielt von der Deutschen Reichsbahn die zivile Streckennummer 6914. Man beachte aber auch, dass auf dem Planausschnitt die schon zurückgebaute Kleinbahnlinie Neichen-Glossen (in Richtung Mügeln) noch existiert. (Sammlung Dirk Reinhardt)
Wie oben bereits genannt, hatte sich die geplante Bauausführung wohl bis 1983 verzögert. Vielleicht war dies der Grund – vielleicht aber auch nur eine geschickte Tarnmaßnahme (die wirklichen Beweggründe sind bisher noch unbekannt)? – denn fast gleichzeitig wurde das „Verbindungsgleis“ in ernsthafte Planungen der hiesigen Wirtschaft einbezogen: Ausgangspunkt war die damals in den alten Werksanlagen des VEB Zellstoff- und Papierfabrik Trebsen stattfindende Zellstoff-Produktion. Diese war mit etwa 50.000 t im Jahr sehr unrentabel und fand zudem unter großen Umweltbelastungen statt. Demgegenüber produzierten moderne westeuropäische Firmen bereits 200.000 t.
Daher plante man die Neuanlage eines Sulfatzellstoffwerkes auf Wedniger Fluren. Das Leipziger Büro für Verkehrsplanung erarbeitete dafür bis zum Februar 1982 die Transportkonzeption. Ein Lageplan vom Dezember 1982 zeigt diese neue Großfabrik im Überblick. Der Plan trägt die Bezeichnung „04/4526 SPL“. Unbekannt blieb bisher, wofür diese Abkürzung steht.
Ausschnitte aus dem Projektplan „04/4526 SPL“ zum Bau der neuen Sulfatzellstofffabrik des VEB Zellstoff- und Papierfabrik Trebsen von 1982 in den gedachten Dimensionen. Die projektierten Gleisanlagen wurden vom Autor farbig hervorgehoben. (Quelle: StA Leipzig, Büro für Verkehrsplanung, Nr. 04-07-06)
Wednig im Westen und Süden umschließend, waren ausgedehnte Betriebs- und Gleisanlagen links und rechts des strategischen Gleises projektiert. Denn natürlich setzten die Planungen auf den Schienenverkehr als einzig vertretbarer Grundlage. Zum Antransport der Roh- und Zuschlagstoffe (Rundholz, Holzhackschnitzel, Chemikalien) sowie der festen Energieträger (Kohle) wurden pro Jahr 45.000 Doppelachsen in Anschlag gebracht. Im Ausgang (Zellstoff, Papier und Papiersäcke, Terpentin, Harzseife) nochmals 8200 DA/a. Das hergestellte Sackpapier war für das eigene Kombinat und für den Export vorgesehen und sollte damit gleichzeitig bisherige teure Importe ablösen. Ab 1986 sollte das neue Werk erbaut und bereits 1989/90 in Betrieb genommen werden. Ein Vermerk in den Dokumenten des Ministeriums für Verkehr vom November 1989 weist darauf hin, dass zu dieser zivilen Nutzung (hier wird die Zustellung von Kohlen-Ganzzügen zu einem neuen Heizkraftwerk genannt) das Zuführungsgleis Trebsen der „Eisenbahnbrückendublierung Wurzen“ mit den im Trebsener Bahnhofsgelände gelagerten Gleisjochen um weitere 1000 m verlängert werden soll. Jedoch verhinderten wohl nicht vorhandene „Investmittel“ die Verwirklichung des gesamten Projekts bis zur politischen „Wende“ in der DDR.
Die Planungen für eine neue Zellstofffabrik wurden jedoch auch nach der Privatisierung des Trebsener VEB’s zur Trebsen Papier GmbH am 14. Juni 1990 fortgesetzt. Allerdings richtete man zu dieser Zeit das Augenmerk auf neue, in der Entwicklung befindliche und umweltfreundlichere Aufschlussverfahren. Zur Vermeidung von Abwässern und Abgasen sowie zur Gewinnung von chlorfrei gebleichtem Zellstoff, arbeiteten diese u.a. mit Wasser und organischen Lösungsmitteln, wie Methanol und Natronlauge („Organocell-Verfahren“).
In dieser Form, unter dem Namen „Organocell GmbH“, tauchte das Vorhaben im Februar 1991 in der „Flächennutzungsplanung/Strukturkonzept des Planungsverband Trebsen mit den Gemeinden Beiersdorf und Seelingstädt“ und im „Vorhaben- und Erschließungsplan/Bebauungsplan Trebsen zum Gewerbegebiet I, Pauschwitz“ von 1991/92 auf. In letzterem Dokument heißt es auch „Organocell sollte aufgrund seiner zukünftig zu erwartenden enormen Wirtschaftskraft für die Region unterstützt werden… von großer Bedeutung ist dabei die Nähe zu den Gleisanlagen… Es wird angestrebt, die vorhandenen Gleisanlagen für den Gütertransport der Gewerbe… zu nutzen und erforderliche Anschlussgleise auszubauen“.
Eines der letzten Lebenszeichen des Sulfatzellstoff-Projekts bei Wednig unter dem neuen Namen „Organocell“. Beachte auch die geplante neue Brücke zwischen Wednig und den Klärteichen! Planausschnitt aus: „Flächennutzungsplanung/Strukturkonzept Planungsverband Trebsen“, erarbeitet von Ingenieur Consult Leipzig, Februar 1991. (Sammlung Dirk Reinhardt)
Doch kurz darauf kamen die Pläne durch neue ökonomische Ausrichtungen und fehlende Finanzen sowie schließlich wegen der am 8. April 1993 erfolgten Konkursanmeldung zur Gesamtvollstreckung „zu den Akten“. Arbeitsmarktpolitisch wäre ein solcher Firmenneubau zwar in der damaligen wirtschaftsflauen Zeit bedeutsam gewesen. Doch hätte dieser sicherlich ebenfalls landschaftliche und ökologische Konsequenzen gehabt.
Militärgeschichte trifft Militärgeschichte: Vor den am 2. April 1991 noch immer in Trebsen aufgestapelten Gleisjochen des strategischen Gleises rangiert Kleinlok 100 951-3. Die eigentlich in Altenhain stationierte Lok befuhr öfter die Gleise des dortigen sowjetischen Munitionslagers. Bis 1945 hatte sie im Dienst der Luftwaffen-Muna Hohenleipisch gestanden. (Foto: Gerard van den Hoven, Sammlung Dirk Reinhardt)
Währenddessen waren weitere Umwälzungen am Trebsener Industriestandort erfolgt, die zur Trennung von Papier- und Papiersackherstellung führten. Durch den anteiligen Verkauf der Papiersackfabrik an zwei westdeutsche Investoren (Bischof & Klein GmbH & Co. KG sowie Franconia Verpackung GmbH & Co. KG) kam es zur Gründung der Trebsen Verpackung GmbH. Während die westdeutschen Investoren die finanzielle Ausstattung des neuen Unternehmens übernahmen, steuerte die Trebsen Papier GmbH die Maschinen bei.
Anfangs produzierte man in gemieteten Hallen der alten Fabrik, bis man mit der Grundsteinlegung im September den kompletten Neubau im gerade entstehenden Gewerbegebiet gegenüber dem Bahnhof anging. Das dort im März 1992 den Betrieb aufnehmende Unternehmen setzte von Beginn an auf einen Eisenbahnanschluss. Weniger zum Versand, sondern vielmehr zur Anlieferung des benötigten und zum größten Teil aus Österreich bezogenen Papiers.
Übrigens planten auch andere Betriebe, die sich nebenan ansiedeln wollten, einen Anschluss an die Bahn. So zeigte, neben der Firma Bavaria Lager- und Transport GmbH, Würzburg (die pro Jahr mit 500 Waggons plante, dann aber 1995 von allen Verträgen zurücktrat), auch die damals gleichzeitig projektierte freie Tankstelle Interesse, sich per Schiene (!) beliefern zu lassen. Selbst die sich später niederlassende Edelhoff GmbH orientierte sich für den Mülltransport zur Deponie Cröbern an der Eisenbahn.
Wenn auch von diesen Projekten letztendlich sehr wenig umgesetzt wurde, sollte doch die Trebsen Verpackung GmbH (spätere Frantschach Industrial Packaging Deutschland GmbH und heutige Mondi Packaging Trebsen GmbH) einige Jahre vom ehemaligen strategischen Gleis profitieren. Denn nachdem das Bundesverkehrsministerium am 1. Dezember 1992 die Deutsche Reichsbahn von der Verpflichtung zur weiteren Aufrechterhaltung dieser früheren militärischen Infrastruktur entbunden hatte, konnte die aufstrebende Verpackungsfabrik den vorbereiteten Bahngleisstummel für ihren eigenen 140 m langen Werkanschluss mitbenutzen und 1995 in Betrieb nehmen. Allerdings ist dessen weitere Zukunft seit dem 1. Januar 2007 ungewiss…
Heute ist der ehemalige Bahndamm weitestgehend verschwunden, durch die Fluten der „Jahrtausend-Hochwasser“ abgetragen oder überwachsen. Lediglich der Hochwasserdurchlass und das Brückenlager am westlichen Ufer der Mulde sind noch vorhanden.
Quellen:
Bundesarchiv Berlin, Bestand DM 1 (Ministerium für Verkehrswesen der DDR), Nr. 14874; 18239; 18340N; 18341; 18382; 18566; 18568
Dienstvorschrift DV A 041/1/111, Hrsg. Ministerrat der DDR, MfNV, Berlin 1987
Sächsisches Staatsarchiv Dresden, Bestand 11228 (Deutsche Reichsbahn, Reichsbahndirektion Dresden, verschiedene Dok.)
Staatsarchiv Leipzig, Amtshauptmannschaft Grimma; Stadt Trebsen (verschiedene Dok.)
Staatsarchiv Leipzig, Büro für Verkehrsplanung, Nr. 04-07-06, Bd. 6 und Bd. 8
Hauptstaatsarchiv Sachsen-Anhalt Dessau, Bestand Reichsbahndirektion Halle/Saale (verschiedene Dok. Rep. I und Reg. A)
Stadtarchiv Trebsen, VEB Zellstoff- und Papierfabrik Trebsen; Chronik Siegfried Riedel
„Flächennutzungsplanung/Strukturkonzept des Planungsverband Trebsen mit den Gemeinden Beiersdorf und Seelingstädt“, erarbeitet von Ingenieur Consult Leipzig, Februar 1991
„Vorhaben- und Erschließungsplan/Bebauungsplan Trebsen zum Gewerbegebiet I, Pauschwitz“ von 1991/92
Hempel, Warncke, Hempel, Reinicke, Schulze: „Ökonomische und technische Vergleiche verschiedener Verfahren als Argumentations- und Entscheidungshilfe für wirtschaftliche Gremien des Muldentalkreises zur Standortbestimmung eines neuen umweltfreundlichen Zellstoffwerkes“ (Studie), o.O., o.J.
Horst H. Nimz (Institut für Holzchemie und chemische Technologien des Holzes der Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirtschaft): „Abwasserfreie, wirtschaftliche Zellstoffgewinnung nach dem FORMACELL-Verfahren“, Hamburg 1994
„Erweiterung der Anschluß-Gleisanlage am Bahnhof Seelingstädt“, August 1957 und andere Dokumente (vgl. Sammlung Dirk Reinhardt)
Peter Bley: „DDR-Reichsbahn und “Vorbereitung” – Von GRN(E)-Strecken, Eisenbahnbautruppen und Brückendublierungen“, Verlag Bernd Neddermeyer; 1. Auflage, Berlin 2005 – mit bestem Dank an @lokist!
Georg Kerber: „Militärischer Eisenbahnbrückenbau“, MTH-Militärtechnische Hefte, Nr. 24, 1. Auflage, Militärverlag der DDR, Berlin 1988
Alba Publikation Alf Teloeken GmbH & Co. KG: „eisenbahn-magazin“, Nr. 11, 1994
IG Schienenverkehr e.V.: „Bahn-Report“, Nr. 2, 1997
„Nachrichten für Grimma und Umgebung“, 20. Oktober 1897, 23. Februar 1908
„Nachrichten für Nerchau, Trebsen und Umgebung“, 25. Juli 1897, 16. März 1900, 1. April 1906
„Muldentalzeitung“, 29. Mai 1992, 14. Oktober 1993, 30. Oktober 2000
„Leipziger Volkszeitung“, August 1991, 28./29. Juni 1995
http://forum.hidden-places.de/showthread.php/2357-Eilenburg-die-Strategische-Kurve
http://www.geschichtsspuren.de/forum/strategische-eisenbahnstrecken-in-der-ddr-t1927.html
http://www.drehscheibe-online.de/foren/read.php?3,1459294,1459301
http://www.nva-mtw.de/TECHNIK/ESB16.HTM
http://www.nva-mtw.de/TECHNIK/SRK50.HTM
http://www.torgauerzeitung.com/Default.aspx?t=NewsDetailModus%2874094%29
http://www.bahnerforum.de/forum/threads/strategische-strecken-sowie-eisenbahn-und-milit%C3%A4r.11959/
http://de.wikipedia.org/wiki/Strategische_Bahn_Oschatz%E2%80%93R%C3%B6derau
http://igrek.amzp.pl/details.php?id=11770058
Hallo Herr Reinhardt,
heute habe ich mir die Hinterlassenschaften der Erdbaukompanie aus Walddrehna beim Besuch der Highland Games in Trebsen angeschaut. Ich bin erstaunt, wieviel von den Gleisanlagen noch vorhanden ist – wenn man ein Auge dafür hat. Von der Baumaßnahme habe ich in der Erdbaukompanie nur gehört, da ich erst nach der Fertigstellung zur Erdbaukompanie im November 1984 eingezogen wurde. Auf der Nerchauer Seite habe ich heute noch ein Eis gegessen und dort kannte keiner die Geschichte zum Gleis. Sie haben noch etwas Aufklärungsarbeit zu leisten.
Manfred Oettrich/ EK 86/1
Besten Dank für die Rückmeldung Herr Oettrich! Und sehr schön, daß Sie sich Zeit genommen haben für die Historie. Das ist ja heute nicht mehr selbstverständlich, wie Sie ja selbst erlebt haben. Trotz der Veröffentlichung dieses Berichtes in der regionalen Tageszeitung und hier auf meiner Webseite gibt es ja anscheinend noch viele Leute in der Region, die das wohl nicht kennen 😉 Aber schließlich ist es ja auch nur ein Angebot zur Aufarbeitung und Aufklärung und dies muss man auch selbst wollen. Viele Grüsse!
Hallo Herr Reinhardt,
schön, dass Sie sich der Sache mit dem Sonder Gleis angenommen haben.
Gestern war ich auf einer kleinen Erkundungsreise rund um Trebsen.
Ich war von März 1984 bis Oktober 1984 bei dieser Baumaßnahme als Soldat direkt involviert. Habe durch Zufall bei meiner Recherche den ehemaligen Fahrdienstleiter vom Bahnhof Trebsen ( 80 Jahre) angetroffen und konnte ein paar Worte mit ihm wechseln. Er konnte sich noch gut an die damaligen Aktivitäten der NVA erinnern.
Den ehemaligen Trassen Verlauf konnte auch ich noch gut nach vollziehen.
Ich war damals in der Instandhaltung und als Tankwart auf dem provisorisch eingerichteten Fahrzeugpark eingesetzt.
Einige wenige Fotos habe ich noch finden können. Leider nicht sehr aussagekräftig, da das fotografieren beim Militär streng verboten war.
Warum wir diese Trasse damals gebaut haben hat uns niemand erklärt…Militärgeheimnis !!!
Wir wussten aber von den Aussagen der Nerchauer Bürger unter vorgehaltener Hand, dass es für den sogenannten Ernstfall mit dem Klassenfeind von strategischer Wichtigkeit sein würde. Denn auf der Nerchauer Seite befand sich angeblich eine Munitionsfabrik von der Sowjetarmee.
Das Eisenbahn Bauregiment Walddrehna hatte schon im Jahr 1983 mit der Erdbau Kompanie mit den Arbeiten in Trebsen begonnen. Im Ernstfall sollte ein Brückenschlag über die Mulde mit den Eisenbahn Baupionieren erfolgen.
Im Sommer 1984 wurde die gesamte Kompanie abgezogen zu einem Brückenschlag über die Elbe zwischen Dommitzsch und Prettin. Die Vorbereitungen dauerten geschätzte 14 Tage. Aufbau der beiden Wiederlager. Der Brückenschlag an sich dauerte schön gerechnet 36 Stunden. Als dieser Spuk vorbei war, waren wir alle froh wieder nach Trebsen umsetzen zu dürfen. Denn mittlerweile hatten wir uns an die Arbeit am Gleisbett gewöhnt, viele Bekannte und Freunde in der Umgebung und der Tag der Entlassung rückte auch immer näher.
Ich könnte hier noch über einige lustige Geschichten berichten….wie z.B. Aussage Soldat ( Vermesser ) an Unterleutnant….also wenn Sie mich fragen, dann verläuft die Trasse 2,5 m aus der Achse. Antwort….die Achse stimmt…weitermachen….3 Tage später musste alles wieder mit viel Aufwand verschoben werden. Uns war es mehr oder wenig egal, für uns war es einfach nur gediente Zeit.
Sollte ich Ihre Neugier geweckt haben, können Sie mich gern kontaktieren. Sollten Sie in Trebsen oder Umgebung wohnen, können wir uns auch gern mal persönlich treffen.
Viele Grüße aus Limbach- Oberfrohna
Volker Schuhmann
Hallo Herr Schuhmann,
vielen Dank für diese sehr spannenden Anmerkungen! Und natürlich habe ich weiteres Interesse an den Erinnerungen eines Dabeigewesenen. Auch an den Fotos, seien sie auch noch so heimlich aufgenommen 😉 Sollten Sie wieder einmal nach Trebsen kommen, können wir gern mal darüber reden, bei einem Bier? Meine Mail-Adresse (für eine Vorab-Info) steht im Impressum.
Viele Grüsse und bleiben Sie gesund!
Dirk Reinhardt
PS: Eine sowjetische Munitionsfabrik auf Nerchauer Seite ist mir nicht bekannt, es dürfte sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit um das Altenhainer Munitionslager handeln. Darüber können Sie auch hier auf meinen Seiten etwas lesen.