Am 27. April 1945, der Krieg gegen Nazi-Deutschland näherte sich seinem Ende, tagte auf der anderen Seite des Atlantiks erstmals das so genannte „Target Committee (Zielausschuss)“ des „Manhattan Project“. Das Manhattan-Projekt, die Tarnbezeichnung der 1942 in Los Alamos angelaufenen, streng geheimen militärischen Forschung der USA zu Entwicklung und Bau einer Atombombe sowie deren militärischer Nutzung, befand sich fast am Ziel: Die bis dahin angehäuften Mengen an Uran U-235 (Anreicherung in Zentrifugen nach dem „Kanonenprinzip“) und Plutonium Pu-239 (Herstellung im Reaktor nach dem „Implossionsprinzip“) ließen keinen Zweifel mehr an der baldigen Fertigstellung der ersten nuklearen Sprengsätze.
Die Zentrifuge “Alpha 1” in Oak Ridge, in der das Roh-Uran zum Uranium-235 angereichert wurde. (Quelle: Wikipedia)
Bereits seit Ende Januar wurde immer öfter über den Einsatz der Atombomben diskutiert und im März dazu das „Project Alberta“ ins Leben gerufen. Diese Untergruppe befasste sich mit dem Abwurf der Bomben über dem Ziel, ihren Zündern, der endgültigen Form der Bombenkörper sowie den technischen Umbauten der zum Abwurf vorgesehenen B-29-„Superfortress“-Langstreckenbomber. Zudem war sie für die Ausbildung der Flugzeugbesatzungen der extra dafür gebildeten „509th Composite Group“ der United States Army Air Force zuständig.
General Leslie Groves (links), der militärische Leiter des „Manhattan Project“ im Gespräch mit Professor Robert Oppenheimer, dem Leiter der Forschungsarbeiten um 1942. (Quelle: https://www.osti.gov/opennet/manhattan-project-history/images/groves_oppenheimer_image.htm)
Jetzt musste bestimmt werden, welche Ziele bombardiert werden sollten. Hatte man anfangs der Bombenentwicklungsarbeiten noch einen Einsatz gegen Deutschland angedacht, war nun jedoch durch den Kriegsverlauf abzusehen, dass es keine deutsche Stadt mehr treffen würde. Hitlers Regime lag in den allerletzten Zügen und kapitulierte am 8. Mai. Darum richteten die USA den Blick auf Japan. Ein, wenn auch angeschlagener, allerdings noch immer potenter und vor allem aber kapitulationsunwilliger Feind.
„Japse – ihr seid die Nächsten! Wir werden den Job beenden!“ Zwar wollte die Mehrheit der Amerikaner unbedingt Vergeltung wegen der Schmach von Pearl Harbor, doch ahnte wohl kaum jemand, wie diese schließlich aussehen würde.
(Quelle: U.S. Army Official Poster, NARA Washington, ARC Identifier 513563)
Auch wenn die USAAF von der zermürbenden Wirkung ihrer konventionellen Luftangriffe überzeugt war und bei einer unvermindert fortgesetzten Luftoffensive eine Kapitulation Japans bis November oder Dezember 1945 erwartete, verdeutlichten allerdings die bald gefochtenen Schlachten um Okinawa und Iwojima den ungebrochenen japanischen Kampfeswillen bis hin zur Selbstaufopferung. Auf amerikanischer Seite rechnete man bis Kriegsende, insbesondere bei der Landung auf den japanischen Hauptinseln, zusätzlich zu den bis dahin im Pazifik gefallenen 70.000 US-Soldaten mit bis zu 300.000 weiteren eigenen Todesopfern. Hinzu kam wenig später die amerikanische Befürchtung, dass die Sowjetunion (die sich bereits als nächster Gegner im dann beginnenden „Kalten Krieg“ abzeichnete) Forderungen auch auf japanisches Gebiet stellen würde. Stalin hatte den USA zugesagt, spätestens drei Monate nach Kriegsende in Europa, in den Pazifikkrieg gegen Japan einzugreifen. Im April hatte die UdSSR das 1941 geschlossene Neutralitätsabkommen mit dem Kaiserreich gekündigt und bereitete sich ab Ende Mai auf die Zerschlagung der japanischen Besatzungstruppen in Ostasien vor. Unter all diesen Gesichtspunkten wurde das Ziel, Japan noch schneller zur Kapitulation zu bringen und so den Krieg, den weltpolitischen amerikanischen Interessen entsprechend, zu beenden, zum deklarierten Motiv des bevorstehenden Einsatzes der Atomwaffen.
Die festgehaltenen Anmerkungen zur ersten Diskussion über die Ziele der geplanten Atombombenabwürfe im Zielausschuss vom 27. April hinsichtlich der zu erfüllenden Kriterien finden sich hier: a3a 1945-05-02-Notes-on-the-Initial-Meeting-of-the-Target-Committee
(Quelle: Notes on the Initial Meeting of the Target Committee (held on 27 April 1945), NARA Washington, Record Group 77, Records of the Office of the Chief of Engineers, Manhattan Engineer District, TS Manhattan Project, Files 1942-1946, Folder 5E)
Die erste Sitzung des Zielausschusses am 27. April bestätigte nun die mehrfach erwogene Strategie, Atombombenangriffe auf „große städtische Gebiete mit einem Durchmesser von mindestens 3 Meilen in den größeren besiedelten Gebieten“ durchzuführen. Und man wählte 17 Ziele für eine umfassende Studie dazu aus. Darunter waren die Bucht von Tokio (für eine eventuelle „nicht tödliche Demonstration“) sowie Städte wie Yokohama, Kyoto, Nagoya, Osaka, Kobe, Hiroshima, Kokura, Nagasaki und Niigata. Alle waren Großstädte, die bisher nicht bombardiert worden waren, für die japanische Kriegsindustrie aber große militärstrategische Bedeutung hatten und von deren Vernichtung man sich eine größtmögliche psychologische Wirkung versprach.
Diese 17 japanischen Städte wurden für die umfassende Studie ausgewählt. (Quelle: Lauris Norstad to Director, Joint Target Group, „Target Information” (28 April 1945), NARA Washington, RG 77, Records of the Office of the Chief of Engineers, Manhattan Engineer District, TS Manhattan Project, Files 1942-1946, Folder 5D)
Als dann am 10. und 11. Mai der Zielausschuss erneut zusammentraf, waren die potenziellen Ziele nach den genannten Kriterien bereits sondiert wurden. Die Auswahl begrenzte sich nunmehr auf Kyoto, Hiroshima, Yokohama, Kokura und Niigata. Das ebenfalls diskutierte Ziel „Kaiserpalast in Tokio“ wurde bald fallengelassen.
Kyoto und Hiroshima wurden jeweils als ein so genanntes „AA Target (Primärziel)“ angesehen. Kyoto, die frühere Kaiserstadt mit ca. 1 Million Einwohnern, war ein geistiges und kulturelles Zentrum Japans und wies gleichzeitig viele hierher verlagerte Industriebetriebe auf. In Hiroshima befand sich ein großes Militärdepot, es war ein „gutes Radarziel“ und aufgrund seiner Größe und Lage wie geschaffen, um die Potenz der Atombombe für eine maximale Zerstörung zu nutzen.
Yokohama und Kokura wurden, etwas geringer, als „A Ziele“ eingeschätzt, obwohl in der Hafen- und Industriestadt Yokohama mehrere Flugzeug- und Maschinenbaubetriebe sowie Ölraffinerien ansässig waren. Jedoch gab es deswegen hier auch eine hoch konzentrierte Flugabwehr, sodass diese Stadt eher als Ausweichziel in Frage kam. Kokura demgegenüber war einer der größten Lager- und Versorgungsstandorte des japanischen Militärs. Niigata wurde als „B Target“ eingeordnet, da die Hafenstadt als Einfallstor an der Nordwestküste der Hauptinsel Honshu galt und Bedeutung erlangen konnte, wenn die anderen Häfen zerstört wären.
Ausschnitt aus der sondierten Zielauswahlliste, die bei der Besprechung vom 10. und 11. Mai diskutiert wurde und die jeweiligen Städte charakterisierte. (Quelle: Memorandum J.A. Derry and N.F. Ramsey to L.R. Groves, „Summary of Target Committee Meetings on 10 and 11 may 1945”, NARA Washington, RG 77, Records of the Office of the Chief of Engineers, Manhattan Engineer District, TS Manhattan Project, Files 1942-1946, Folder 5D) > Das vollständige Dokument kann hier nachgelesen werden: a4 1945-05-12-Summary-of-Second-Target-Committee-Meeting
Während Mitte Mai der Korpus der Uran-Bombe „Mark-1 (Mk.1)“ fertig gestellt wurde, schätzte man, dass bis zum 1. August ausreichend Material für den U-235-Kern verfügbar sein werde. Nach ihrer Fertigstellung enthielt die Bombe mit dem Spitznamen „Little Boy“ insgesamt 64 kg Uran. Ob dafür ein Teil auch aus den etwa 1100 Tonnen Roh-Uran gewonnen worden sein könnte, die US-Truppen im April im sachsen-anhaltinischen Staßfurt erbeut hatten, oder aus der halben Tonne Uranoxid, die das deutsche U-Boot “U-234” nach Japan bringen sollte, sich aber nach der deutschen Kapitulation der US-Navy ergab, ist möglich. Beide erbeuteten Funde wurden in die Uran-Anreicherungsanlage Oak Ridge in Tennessee gebracht, was aber damit weiter geschah, ist nicht belegt.
Wenige Tage später, am 28. Mai, fand die dritte und letzte Sitzung des Zielausschusses statt und wählte letztendlich Kyoto, Hiroshima, Kokura und Niigata als Ziele für die Atombomben aus. Die Ergebnisse dieser Sitzung wurden auch dem Kommandeur der den Einsatz fliegenden Bombereinheit, Lieutenant Colonel Paul W. Tibbets, einem im Luftkrieg gegen Deutschland erfolgreichen und erfahrenen Flieger, mitgeteilt.
Tibbets 509th Composite Group, die schon im Dezember 1944 für genau diesen Zweck aufgestellt wurde, war völlig autark. Sie bestand aus der 393rd Bombardment Squadron (der eigentlichen Bomberstaffel), der 320th Troop Carrier Squadron und anderen, zur personellen, militärischen sowie technischen Sicherstellung und Versorgung nötigen Truppenteilen. Und sie unterlag allerstrengster Geheimhaltung. Unter dem Tarnnamen „Operation Silverplate“ erprobte diese Einheit auf dem Flugfeld in Wendover (Utah) die Abläufe zum Abwurf der Atombombe und fungierte gleichzeitig als Versuchseinheit zur bautechnischen Optimierung der Bombenkörper und der viermotorigen Trägerflugzeuge B-29. Dazu wurden verschiedene Dummy-Bomben, betongefüllte Attrappen der Mk.1 „Little Boy“ und der Mk.3 (Plutonium-Bombe „Fat Man“), in verschiedenen Abwurfversuchen, verwendet.
Mehr zur Geschichte dieser Bombergruppe gibt es hier zu erfahren: (Quelle: https://web.archive.org/web/20120127130713/http://www.afhra.af.mil/shared/media/document/AFD-080128-037.pdf)
Nach den erfolgreichen Trainingsflügen wurde die 509th CG Anfang Juni 1945 über Hawaii zur Marianen-Insel Tinian im Pazifik verlegt, wo die Flugzeuge bis Ende des Monats eintrafen. Offiziell unterstellt wurde die 509th CG dem 313th Bombardment Wing, einem von fünf Bombengeschwadern des XXI Bomber Command, welches wiederum der 20th Air Force unterstand, die neben der 5., 7. und 13. AF den strategischen Bombenkrieg gegen Japan führte. In Tinian nahm man die Übungs- und Testflüge erneut auf, jetzt allerdings unter pazifischen Bedingungen.
Am 11. Juli 1945 begannen mit der Montage der Plutonium-Atombombe die letzten Vorbereitungen für deren ersten Test, der den Codenamen „Trinity“ erhielt und am 16. Juli auf der in den „White Sands“ gelegenen „Alamagordo Bombing Range“ (250 km südlich von Los Alamos in New Mexico) um 05:29 Ortszeit stattfand. Die Testzündung verlief erfolgreich und bewies die Funktionsfähigkeit der baulich und prinzipiell komplizierteren Plutoniumbombe, deren Sprengkraft 21 Kilotonnen TNT betrug. Die einfachere Uraniumbombe wurde überhaupt nicht getestet, weil man einerseits davon ausging, dass diese in jedem Fall funktionieren würde. Andererseits war zu dieser Zeit nicht genügend U-235 für eine zweite Bombe verfügbar.
Fotosequenzen des “Trinity”-Tests. (Quelle: U.S. Department Of Energy/science Photo Library; vergleiche hier (Quelle: https://www.osti.gov/opennet/manhattan-project-history/Resources/photo_gallery/trinity_test.htm) und hier (Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=_7fKlk441dQ)
Am 17. Juli, in Deutschland begann gerade die Potsdamer Konferenz (17.7. – 2.8.), erfuhr US-Präsident Harry S. Truman vom erfolgreichen Test. Wenige Tage später erhielt er von seinem Kriegsminister Henry L. Stimson ebenfalls die aktualisierte Zielliste. Auf dieser standen jetzt die japanischen Städte Hiroshima, Kokura und Niigata. Weil das frühere Primärziel Kyoto auf langes Drängen von Stimson (der die Stadt einmal besucht hatte und um deren Bedeutung als kulturelles Zentrum Japans wusste) letztlich doch noch gestrichen wurde, war die Stadt Nagasaki wieder in diese Auswahl gerückt.
Die finale „Top Secret”-Liste der Ziele für den Angriff. Festgehalten im „Memorandum from Colonel John Stone to General Arnold” am 24. Juli 1945. (Quelle: NARA Washington, RG 77, Records of the Office of the Chief of Engineers, Manhattan Engineer District, TS Manhattan Project, Files 1942-1946, Folder 5B)
Mitgeteilt wurde auch, ab wann die Plutonium-Bomben zur Verfügung stehen würden. „Fat Man“ sollte am 6. August einsatzbereit sein, eine zweite dieses Typs bis zum 24. August, eine dritte im September sowie bis zu 7 oder mehr im Dezember. Ein beachtliches Potenzial, um damit den gegenwärtigen sowie neuen Gegnern amerikanische Macht und deren Fähigkeit und Willen zur Veränderung der Welt nach dem Krieg zu demonstrieren. Insbesondere sollte damit die UdSSR mit ihrem Staatsführer Josef Stalin bei der Potsdamer Konferenz unter Druck gesetzt werden. Doch als Truman dies am 24. Juli Stalin offerierte, zeigte sich dieser kaum beeindruckt: Er wusste bereits durch seine Spione (u.a. Klaus Fuchs) um die neuartige und weltverändernde amerikanische Waffe. Aber auch um die begonnenen eigenen Arbeiten an einem sowjetischen Pendant, einem Nachbau des Plutonium-Bombentyps.
Tagebucheintrag vom 25. Juli von Präsident Truman über seine Entscheidung zum Einsatz der Atombomben. (Quelle: “Truman diary”, Truman Presidential Library, trumanlibrary.org oder vergleiche hier: (Quelle: http://www.dannen.com/decision/hst-jl25.html)
Am folgenden 25. Juli ordnete Präsident Truman die schnellstmögliche Bereitstellung der Atomwaffen für den Einsatz über Japan an. Demnach sollte der Einsatz der ersten „Spezialbombe“ bis zum 3. August vorbereitet werden. Nach Bereitstellung der zweiten Bombe sollte auch diese abgeworfen werden. Allerdings überließ er dem im Pazifik zuständigen Generalstab der U.S. Strategic Air Forces unter dessen Oberbefehlshaber General Carl A. Spaatz den endgültigen Einsatzbefehl und die Zielauswahl. Dass die präsidiale Anordnung zum ersten Atombombenabwurf dabei ausgerechnet in Deutschland, im „Haus Erlenkamp (Little White House)“ in Potsdam, wo die amerikanische Delegation damals Quartier bezogen hatte, getroffen wurde, ist ein weiterer „Winkelzug der Geschichte“.
“Top Secret”-Nachricht als „Official Bombing Order“ von General Thomas T. Handy an General Carl Spaatz vom 26. Juli 1945 über die von Präsident Truman angeordnete Bereitstellung der Atombomben. (Quelle: NARA Washington, RG 77, Records of the Office of the Chief of Engineers, Manhattan Engineer District, TS Manhattan Project, Files 1942-1946, Folder 5E)
Am 26. Juli erreichte der Schwere Kreuzer „USS Indianapolis“ mit acht unbestückten „Little Boy“-Bombenkörpern den Hafen von Tinian. Am 28. Juli trafen der Urankern sowie die Plutoniumladung für „Fat Man“ per Flugzeug ein. Und am 2. August, als die Konferenz in Potsdam endete, brachten schließlich drei B-29 jeweils einen Bombenkörper des „Fat Man“-Typs zur Insel. Der Countdown lief.
General Spaatz und sein Stab interpretierten Trumans Order so, dass die Bomben schnellstmöglich einzusetzen wären. Demzufolge wurde am 31. Juli in „Little Boy“ die Kernladung eingesetzt, so dass dieser bereits für den nächsten Tag einsatzbereit war. Jedoch verhinderte ein aufkommender Taifun, der sich Japan näherte, den geplanten Angriff am 1. August. Es sollten noch einige Tage vergehen, bis das Wetter aufklarte – eine allerletzte Gnadenfrist für das bestätigte Primärziel Hiroshima…
Am 5. August versah der inzwischen zum Oberst beförderte Kommandeur der 509th CG Paul Tibbets die zum Abwurf auserkorene B-29 (44-86292, taktische Nummer “82”) mit dem Vornamen seiner Mutter „Enola Gay“ an der Bugnase, weil er sie selbst fliegen würde. Dann wurde die 4,5 t schwere Atombombe eingeladen.
Der B-29-Langstreckenbomber „Enola Gay“ und sein Pilot Paul W. Tibbets. (Quelle: “Enola Gay” NARA Washington, RG 77, Records of the Office of the Chief of Engineers 1789-1999, Series: Photographic Prints of Atomic Bomb Preparations at Tinian Island, 1945-1945, 77-BT-91; Tibbets fotografiert von Pfc Armen Shamlian, NARA Washington, RG 208, Records of the Office of War Information, 1926 – 1951, Series Photographs Depicting Life in the U.S.,1942 – 1946, 208-LU-13H-5)
Die Atombombe „Little Boy“ lagerte auf dem Flugfeld von Tinian in einer extra dafür angelegten Bombengrube. Kurz danach wurde sie mit einem hydraulischen Lift in den Bombenschacht der „Enola Gay“ gehievt. (Quelle: NARA Washington, RG 77, Records of the Office of the Chief of Engineers 1789-1999, Series: Photographic Prints of Atomic Bomb Preparations at Tinian Island, 1945-1945, 77-BT-114 und 77-BT-116)
In der Nacht um 0:00 Uhr Tinian-Zeit begannen die Startvorbereitungen der Mission, dann, um 2:45 hoben der Bomber und zwei Begleitmaschinen von der Startbahn ab und nahmen Kurs auf Japan. Die voraus geflogenen Wetterflugzeuge meldeten gegen 8:00 (7:00 Hiroshima-Zeit) gute Wetterbedingungen über allen noch möglichen Zielen. Damit fiel die Entscheidung endgültig auf Hiroshima.
Die offizielle „Operations Order No. 35“ vom 5. August, der Befehl zur Ausführung des Atombombenangriffs auf Hiroshima. Foto: Harold Agnew (Quelle: NARA Washington, RG 342, Organizations, 1900-2003. Series: Black and White Photographs of U.S. Air Force and Predecessor’s Activities, Facilities, and Personnel, Domestic and Foreign, 1930 – 1975, oder vergleiche hier: (Quelle: https://time.com/3980421/hiroshima-nagasaki-operations-orders/)
Eine Stunde später wurde das Ziel deutlich sichtbar, der Zielpunkt, die markante Aioi-Brücke, kam in Sichtweite, schließlich begann die 60-Sekunden-Sequenz zur automatischen Freigabe der Bombe, die diese aus ihrer Verankerung löste, von wo sie dreiundvierzig Sekunden lang auf die 9450 m unter der „Enola Gay“ liegende und sich in der morgendlichen Hauptverkehrszeit befindliche Stadt, zufiel.
6. August 1945, 8:15:02 Hiroshima-Zeit – „Pikadon“*, ein heller Blitz ließ die Sonne vom Himmel fallen. 580 m über der Stadt explodierte „Little Boy“ und 12.500 Tonnen TNT-Äquivalent löschten sie augenblicklich aus. Der mehrere tausend Grad heiße Feuerball, heißer als die Sonnenoberfläche, der sich mit einer Geschwindigkeit von 440 m in der Sekunde kreisförmig ausbreitete, zerstörte innerhalb von Millisekunden etwa 80 Prozent der Innenstadt. Nur wenig später erhob sich eine pilzförmige Wolke hoch in den Himmel. Dann fiel schwarzer Regen, giftig und radioaktiv…
Atompilz von „Little Boy“ über Hiroshima am 6. August 1945, Foto: George R. Caron. (Quelle: NARA Washington, RG 342, Records of U.S. Air Force Commands, Activities, and Organizations, 1900-2003. Series: Black and White Photographs of U.S. Air Force and Predecessor’s Activities, Facilities, and Personnel, Domestic and Foreign, 1930 – 1975, 58189 A.C.)
Der menschengemachte Horror zerstörte nicht nur, sondern tötete auch in einem bisher unbekannten und unbegreiflichen Ausmaß. Von den damals insgesamt etwa 290.000 Einwohnern Hiroshimas sowie 43.000 Soldaten starben bis zu 80.000 Menschen wahrscheinlich in der ersten Sekunde, sie verglühten, verbrannten zu Asche, hinterließen bestenfalls einen Schattenabdruck. Noch in 1,5 Kilometer Entfernung verwandelte sich Haut in eine schwarze Kruste. Noch einmal so viele Menschen wurden verwundet. Und geschätzt mehrere zehn- bis hunderttausende Menschen oder mehr verstarben in den folgenden fünf Jahren an den Folgeschäden der radioaktiven Strahlung.
Während Japan angesichts der zunächst unbekannten Ursache der Apokalypse in eine Schockstarre fiel, überschlugen sich die Schlagzeilen der Tageszeitungen in den USA und der restlichen Welt. Der „Genbaku Dome (auch Atombombendom)“, oben links, ein ehemals modernes Ausstellungs- und Verwaltungsgebäude, stand im „Ground Zero“ der Bombe und seine Ruine ist bis heute Mahnmal. (Quelle Reuters und verschiedene Tageszeitungen)
Jedoch war das Grauen noch nicht vorbei. Denn auf der Insel Tinian hatte man bereits am 5. August, noch vor Abflug der „Enola Gay“, die zweite Bombe „Fat Man“ zusammengebaut. Ihr Ziel sollte die Stadt Kokura sein, der Angriffstag der 11. August. Doch weil sich erneut schlechtes Wetter abzeichnete, zog der Generalstab, eigenständig und ohne weitere Rückfragen bei Präsident Truman, den Abwurf schließlich auf den 9. August vor. Aufgrund der Eile verzichteten die Bombentechniker auf Tinian sogar auf einige Prüf-Tests beim Montieren der Waffe. Am frühen Morgen des 8. August setzte man die Plutonium-Ladung in den Bombenkörper ein und belud um 22:00 Ortszeit ein weiteres der insgesamt fünfzehn umgerüsteten B-29-Bomberflugzeuge der Gruppe. Diesmal wählte man die „Bock’s Car“ (44-27297, „77“) aus. Als Pilot fungierte Major Charles W. Sweeney, der Kommandeur der 393rd Bombardment Squadron.
Die Plutoniumbombe „Fat Man“ auf ihrem Transportwagen, kurz vor der Verladung in die B-29 „Bock’s Car“ am 8. August 1945. (Quelle: NARA Washington, RG 77-BT: Records of the Office of the Chief of Engineers, 1789 – 1999, Series: Photographic Prints of Atomic Bomb Preparations at Tinian Island, 1945-1945, 77-BT-187)
Die „Mission Order No. 39“ für den 9. August 1945. (Quelle: Museum of World War II Boston, https://time.com/3980421/hiroshima-nagasaki-operations-orders/)
Die Flugrouten der zwei Missionen zum Abwurf der „Spezialbomben“. (Quelle: The Department of Energy (DOE), https://www.osti.gov/opennet/manhattan-project-history/images/mission_map_image.htm)
Am Morgen des 9. August, um 03:47, starteten die drei Bomber zum Primärziel Kokura. Obwohl die Besatzung der „Bock’s Car“ kurz vor dem Start die Funktionsuntüchtigkeit des Reservetanks bemerkte, wurde entschieden, die Mission wie geplant fortzusetzen. Während des Anflugs auf Japan kam es dann zu einem weiteren Missgeschick: Eines der Begleitflugzeuge traf nicht am vereinbarten Treffpunkt ein, die anderen zwei Bomber kreisten dort etwa 30 Minuten umsonst. Um 9:10 hatten die voraus geflogenen Wetterflugzeuge gemeldet, dass sowohl Kokura als auch das Ausweichziel Nagasaki unter einer Wolkendecke liegen würden, die Sicht aber für einen visuellen Angriff ausreichend sei. Die Piloten beschlossen um 9:50 den Weiterflug in Richtung Kokura. Spekulativ bleibt, ob diese zusätzliche Wartezeit möglicherweise dazu geführt hat, dass zum Zeitpunkt des Eintreffens über dem Primärziel (10:44) dieses unter dichtem Dunst lag und der Zielpunkt nicht zu erkennen war. Wurde damit vielleicht Kokura gerettet und stattdessen Nagasaki zur Vernichtung verurteilt?
Obwohl Major Sweeney drei Anläufe auf das Ziel durchführte, musste er diese aber immer wieder abbrechen, auch weil nun die japanische Flak-Abwehr in Erscheinung trat und einige Jagdflugzeuge aufstiegen. Die Besatzung fing an, über die weitere Fortsetzung der Mission zu diskutieren. Dann entschloss sich Sweeney, das Sekundärziel anzusteuern. Nagasaki lag zwar ebenfalls unter Wolken, weil aber der zusätzliche Treibstoff für weitere Aktionen nicht verfügbar war und der restliche gerade noch für den Rückflug ausreichte, musste die Besatzung die Bombe dort irgendwie abwerfen.
Um 10:56 Ortszeit erreichte die Mission schließlich die Hafenstadt Nagasaki. Eine Lücke in der Wolkendecke sollte nun doch noch einen Abwurf auf Sicht ermöglichen, allerdings erfolgte dieser etwa drei Kilometer entfernt vom eigentlichen Zielpunkt. So zündete am 9. August 1945 um 11:02 Nagasaki-Zeit 503 m über der Stadt die mit 6,4 Kilogramm Plutonium bestückte Bombe „Fat Man“ mit einer Detonationsstärke von 22 Kilotonnen TNT.
Atompilz von „Fat Man“ über Nagasaki am 9. August 1945. Foto: Charles Levy. (Quelle: NARA Washington, RG 342: Records of U.S. Air Force Commands, Activities, and Organizations, 1900-2003. Series: Black and White Photographs of U.S. Air Force and Predecessor’s Activities, Facilities, and Personnel, Domestic and Foreign, 1930 – 1975, A-58450 A.C.)
Obwohl die Bombe das eigentlich geplante Ziel nicht direkt traf, sich die Wirkung auf das Stadtgebiet im Urakami-Tal „beschränkte“ und so ein Teil durch die Berge geschützt wurde, zerstörte sie fast die Hälfte Nagasakis vollständig. Die höhere Sprengkraft der Bombe und ihre Druckwelle als auch die altmodisch-japanisch gebauten Gebäude, die aus Holz- oder Holzrahmengebäuden mit Holzwänden und Ziegeldächern bestanden, bewirkten nahezu eine völlige Einebnung aller Bauten im Explosionsradius.
Nagasaki im Vergleich zweier Luftbilder, die vor und nach der Atomexplosion entstanden. Die Radien sind in amerikanischen Fuß abgegeben (1000 ft entsprechen 304,9 m). (Quelle: NARA Washington, RG 77-MDH-162)
Die Bevölkerung Nagasakis wurde zum Zeitpunkt der Bombardierung mit bis zu 240.000 Zivilisten und 9.000 Soldaten angegeben. Etwa 30 Prozent davon befanden sich 2 km oder näher am Detonationsort, so dass erste Schätzungen unmittelbar nach der Atomexplosion von 40.000 bis 75.000 Toten ausgingen und weiteren 60.000 schwer verletzten Menschen. Später wurde die Zahl der Getöteten vom 9. August zwar nach unten korrigiert, lag aber noch immer bei äußerst schwer vorstellbaren 22.000 bis 35.000 Toten und mindestens ebenso vielen bis Mitte 1946.
Zwei Stunden nach dem Abwurf landete die „Bock’s Car“ mit dem letzten Tropfen Treibstoff in Okinawa, tankte auf und startete wieder zur Heimatbasis. Als sie abends dort ankamen, wurden sie aber – anders als bei der Rückkehr der Hiroshima-Crews drei Tage zuvor – nicht erwartet, nicht freudig begrüßt und nicht fotografiert.
Noch immer war der Krieg nicht vorbei. So trafen am 12. August die nuklearen Komponenten für die dritte Bombe ein, die innerhalb von fünf Tagen einsatzbereit sein sollte, um auf Kokura abgeworfen werden zu können. Präsident Truman hatte da aber bereits beschlossen, keine weiteren Kernwaffen gegen Japan einzusetzen. Denn die japanische Regierung begann als Reaktion auf die Atombombenabwürfe und den sowjetischen Kriegseintritt endlich am 10. August mit den Alliierten Verhandlungen über die Kapitulationsbedingungen aufzunehmen. Kokura** entkam damit zum wiederholten Male dem Tod und der Weltgeschichte blieb bis heute ein drittes atomares Massensterben erspart.
Dennoch war der Ausgang der Verhandlungen unsicher. Hatten die beiden „wirklich totalen Bombardierungen“ die gewünschte psychologische Wirkung? Würde Japan kapitulieren und der 2. Weltkrieg damit enden?
In Japans Führung eskalierte der Konflikt. Kaiser Hirohito intervenierte persönlich, denn er hatte sich, gegen den Rat einiger seiner Generäle und nach mehreren Debatten im Obersten Kriegsrat und im Geheimen schließlich zur Kapitulation entschieden. Mehrere Offiziere wollten dieser empfundenen Schmach nicht zustimmen, doch ein daraufhin versuchter Putsch scheiterte.
Währenddessen flogen die Amerikaner mit über 800 B-29 am 14. August letztmalig Angriffe auf japanische Ziele. Hirohito erließ noch am gleichen Tag den „Kaiserlichen Erlass über das Kriegsende“ und akzeptierte damit die bedingungslose Kapitulation, wie sie von den Alliierten in der so genannten „Potsdamer Erklärung“ vom 26. Juli 1945 ultimativ gefordert worden war. Wenige Stunden später, am 15. August, verkündete der Kaiser selbst diese Entscheidung auf allen Radiosendern des Reiches. Am 2. September wurde die Kapitulation an Bord des Schlachtschiffes „USS Missouri“ in der Bucht von Tokio unterschrieben. Damit endete der 2. Weltkrieg offiziell.
Im November 1945 verließ die 509th Composite Group Tinian und wurde nach New Mexico verlegt. Hier rüstete man die Spezialeinheit weiter auf. Umbenannt in 509th Bombardment Group wurde sie zur Keimzelle des am 21. März 1946 gebildeten „Strategic Air Command (Strategisches Luftkommando)“ der amerikanischen Luftwaffe. Mit den Erfahrungen aus dem 2. Weltkrieg, insbesondere bei den Flächenbombardements weit entfernter Ziele und durch die Atombombenabwürfe, hatte sich in der Streitkräfteführung die Forderung nach einem eigenständigen Kommando für diese strategischen Einsätze durchgesetzt. So avancierte das SAC während des nun beginnenden „Kalten Krieges“ bis zur Auflösung 1992 zum zentralen Bestandteil des nuklearen Abschreckungspotenzials der USA. Neben Langstreckenbombern, die die nach dem Krieg zuerst in größerer Stückzahl beschafften Mark 3 (Mk.3)-Atombomben tragen sollten, zählten die dann entwickelten Interkontinentalraketen gleichfalls als strategische Kernwaffen und wurden dem SAC unterstellt.
Ob der Einsatz der Atombomben letztendlich ausschlaggebend war, ist bis heute umstritten. Während „Enola Gay“-Pilot, Paul Tibbets, Zeit seines Lebens nie an der Rechtmäßigkeit seiner Tat zweifelte oder diese gar bereute, quälte sich sein Copilot Robert Lewis bereits auf dem Rückflug von Hiroshima mit dem Gedanken an die vielen Toten. Im Logbuch notierte er: „Wie viele Japaner haben wir genau getötet?“ und schrieb weiter: „Mein Gott, was haben wir getan?“ Lewis war durch den Anblick des kilometerweit in die Höhe steigenden Atompilzes überzeugt, das Japan sofort kapitulieren würde. Doch der US-Kampfpilot irrte sich. Bis zum Ende des Krieges sollten, wie oben beschrieben, noch 27 Tage vergehen und sogar eine zweite Atombombe die Stadt Nagasaki auslöschen…
Die Überlebenden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki werden in Japan “Hibakusha (Explosionsopfer)“ genannt. Oft leiden sie an zahlreichen körperlichen und seelischen Spätfolgen der Ereignisse. Eine der bekanntesten Hibakusha war das Mädchen Sadako Sasaki, die 2 Jahre alt war, „als die Sonne auf Hiroshima fiel“. Als sie 1954 an Leukämie erkrankte, erinnerte sie sich an einen alten japanischen Volksglauben: Wer 1000 Origami-Kraniche aus Papier faltet, hat bei den Göttern einen Wunsch frei. Also begann Sadako zu falten. 1955, als 644 Kraniche fertig waren, starb sie. Seither gelten Papierkraniche als Symbol für den Kampf gegen Atomwaffen.
Sadako Sasaki, 1955. (Quelle: Wikipedia)
Auch darum ertönt seit 1947 als weiteres Symbol die „Friedensglocke von Hiroshima“ alljährlich am 6. August um Punkt 8:15 Uhr Hiroshima-Zeit. In der folgenden Schweigeminute hält das Leben in Japan für einen Augenblick inne und man gedenkt allen Toten der ersten und hoffentlich auch letzmalig gegen Menschen eingesetzten Atombomben.
* „Pikadon“ ist der japanische Ausdruck für „heller Blitz“ und wurde im Zusammenhang mit der Explosion der Atombombe „Little Boy“ am 6. August 1945 über Hiroshima gebräuchlich.
** „Kokura“ ist seitdem in Japan ein „geflügeltes Wort“ für eine Katastrophe, der man durch Zufall entkommen ist.
wird fortgesetzt…