Im Fokus der Spione – Altenhain
Unmittelbar nach Kriegsende 1945 begann der „Kalte Krieg“. Denn die Westmächte, vor allem die USA, gingen im Rahmen ihrer politischen Strategien schon bald von militärischen Konflikten mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten aus. Verstärkt gar, als ab 1949 beide Großmächte atomare Waffen besaßen und bereit waren, diese auch einzusetzen. In den darauf folgenden vier Jahrzehnten liefen die Rüstungsindustrien der Systeme auf Hochtouren. Unzählige Atombomben sowie riesige Arsenale an Raketen und nuklearen Gefechtsköpfen verbreiteten Angst und Schrecken. Und die Bedrohung nahm stetig zu. Immer größere Kernladungen, immer weiterreichende, treffsichere Raketen und Marschflugkörper ließen dem vermeintlich „Zweitschnelleren“ kaum Zeit zur Gegenwehr. Zudem wichen Strategien und Denkweisen in Ost und West über die Art der Kriegsführung teils sehr voneinander ab.
Natürlich versuchte jede Seite militärische Kräftesituationen und Planungen der anderen aufzuklären, um möglichst früh Vorbereitungen eines Nuklearkrieges zu entdecken. Da aber besonders alles Militärische einer strikten Geheimhaltung unterlag, fiel demzufolge in diesem „Kriegsspiel“ Geheimdiensten eine überaus wichtige Rolle zu. Nur jene schienen fähig, Mobilisierungsanzeichen und ernsthafte Angriffsbestrebungen rechtzeitig zu bemerken. Weil in der damaligen DDR beträchtliche Kontingente der sowjetischen Streitkräfte (ab 29. Mai 1945 GSBTD – Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland, ab 26. März 1954 GSSD – Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, von Juni 1989 – 1994 WGT – Westgruppe der Streitkräfte/Truppen – im Folgenden mit GSSD abgekürzt) stationiert waren, setzten die westlichen Dienste ihre Agenten verstärkt auf deren Kasernen und Einrichtungen an. Auch in unserer Region. Neben Befehlsstäben und großen Garnisonen (Grimma, Wurzen) betraf dies insbesondere den Flugplatz Brandis und das Munitionslager Altenhain. Überdies lagen Verkehrsknoten und Eisenbahnlinien – wie beispielsweise die Strecke Beucha-Trebsen, an der sich gleich zwei Bahnhöfe mit militärischen Anschlüssen befanden – im Spionagefokus.
In den 1950er Jahren hatten US-Geheimdienste, so die Central Intelligence Agency (CIA), aber auch Briten, Franzosen und nicht zuletzt der westdeutsche Bundesnachrichtendienst (BND) ein recht gutes Bild zu den GSSD-Objekten und den dort stationierten Einheiten. So beschreiben mehrere freigegebene CIA-Dokumente bis Mitte der 1950er Jahre die Gege-benheiten der Garnison Altenhain, wo die sowjetische 8. Garde-Armee ein zentrales Munitionslager unterhielt. Unter anderem berichtet eine „Geheime Information“ vom Dezember 1951: „Das Munitionslager befindet sich ca. 2 Kilometer nördlich des Dorfes im bewaldeten Gelände. Die 21. Panzerdivision, die 57. Garde-Schützendivision und die 20. Schützendivision, alle zur 8. Garde-Armee gehörig, werden von dieser Einrichtung beliefert. Das Depot erhält seine Militärgüter per Eisenbahn direkt aus der Sowjetunion, die Güter werden auch per Zug weiter verteilt … Neben der Nutzung als Munitions- und Waffenlager bietet diese Einrichtung Möglichkeiten zur Inspektion… und Reparatur der Bewaffnung. Alle Typen von Waffen, inklusive Feldartillerie- und Flugabwehrkanonen…, können hier repariert werden … Die Gesamtzahl des militärischen Personals liegt zwischen 720 und 900, zusätzlich sind über 150 deutsche Frauen beschäftigt, die Waffen für die Einlagerung vorbereiten, Munition be- und entladen … Ein 2 – 3 m hoher Stacheldrahtzaun, in der Nacht elektrisch beleuchtet, umgibt das Gelände … In den Lagerhäusern sind Artilleriegeschosse, Maschinenpistolen und -gewehre, Minen, Granaten verschiedenster Kaliber und Raketengeschosse (Katjuscha-Typ) deponiert. Ein Lagerhaus kann zwischen 4000 – 6000 Stück aufnehmen. Die 50 – 60 unterirdischen Bunker haben an den Türen zweistellige Nummern mit einem vorangestellten Buchstaben, was der Einordnung der verschiedenen Munition… dient. In einem Bunker befinden sich etwa 800 Kisten, jede mit 2500 Patronen.“
Wenn auch nicht in allen Details korrekt, geben der gezeichnete Plan und die weiteren internen Beschreibungen die Gegebenheiten
in der „Muna“ Altenhain um 1951 recht genau wieder. (Quelle: CIA-Archiv, Washington, das gesamte Dokument ist als pdf auch online:
https://www.cia.gov/library/readingroom/docs/CIA-RDP82-00047R000100140005-9.pdf)
Zwar ist der hier nur in wenigen Auszügen wiedergegebene CIA-Bericht in kleinen Details ungenau: Unter anderem wurde die Personalstärke nur anhand der Speisessaal-Kapazitäten geschätzt. Auch belegen die oben angegebene Zahl der ebenerdig errichteten und nur erdüberdeckten Bunker (tatsächlich 96) sowie eine beigefügte Objektskizze, dass die so genannte „Innenquelle“ der CIA (eine der deutschen Arbeiterinnen?) nicht jede Ecke des Lagers kannte oder betreten durfte. Jedoch ist die Beschreibung insgesamt korrekt. Leider fand sich in den bisher freigegebenen amerikanischen Geheimakten kein derartiger Bericht mehr ab 1960. Eventuell unterlag auch die westliche Aufklärung zum Munitionslager Altenhain damals einem Informationseinbruch? Denn bereits bis 1956 waren von den sowjetischen Nutzern die letzten deutschen Arbeiterinnen entlassen worden.
Es bedurfte also weiterer Wege zur Informationsbeschaffung. Vor allem, als es in Folge den Geheimdiensten wesentlicher darum ging, Veränderungen im Status der Objekte zu erkennen. Erfolg versprach hierbei besonders die Überwachung des Eisenbahnverkehrs, denn die Anlieferungen zu größeren Baumaßnahmen, die Zuführung moderner Waffensysteme und auch der Truppenaustausch erfolgten in der Regel über Bahntransporte. Wie geheimdienstlich bedeutend und angreifbar das logistische System war, beweisen andere CIA-Dokumente, die bis 1958 fast monatlich gefertigte Listen über den in Altenhain ein- und ausgehenden Militär-Güterverkehr enthalten. Deren Genauigkeit (neben der Ladungsart wurde gleichfalls berichtet, wohin bzw. woher geliefert wurde) lässt vermuten, dass einer der so genannten „Standortüberwacher“ selbst Eisenbahner war. Oder zumindest einen guten Einblick in das hiesige Bahngeschehen hatte.
Ein Ausschnitt vom April 1954 der damals fast monatlich gefertigten Listen zum täglichen Eisenbahngüterverkehr der Altenhainer „Muna“
mit Angabe der jeweiligen Tonnage und den verschiedenen Zielen. (Quelle: CIA-Archiv, Washington)
„Tod den Spionen!“ – Die Spionageabwehr
Die Militäraufklärung in Altenhain unterlag wechselndem Erfolg. Vor allem der Berliner Mauerbau am 13. August 1961 und die verstärkte Grenzsicherung zur BRD brachten erhebliche Einschnitte in nachrichtendienstlichen Belangen. Weil damit den in der DDR agierenden Spionen der Zugang zu ihren (meist) in Westberlin ansässigen Dienststellen erschwert oder ganz verwährt wurde. Zudem war mit der ab 1958 beginnenden Stationierung von Raketeneinheiten bei der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in der DDR deren Geheimhaltungsbedürfnis immens angestiegen und zog verstärkte Spionageabwehrmaßnahmen nach sich. Denn die Aufklärung all dieser Stationierungen, insbesondere Lagerung, Logistik und Einsatzplanung der nuklearen Waffen oblag allen westlichen Nachrichtendiensten.
Inwieweit dies tatsächlich gelang, ist ein spannendes Kapitel des „Kalten Krieges“. Zwar gibt es mittlerweile einige Hinweise sowie Berichte ehemaliger Raketensoldaten, aber beweisen-de Dokumente liegen noch viele Jahre verschlossen in amerikanischen und russischen Archiven. Glaubt man den Indizien, waren UdSSR-Atomwaffen auf mehrere ostdeutsche Orte verstreut. Darunter befanden sich die Garnisonen der Beweglichen Raketentechnischen Basen (BRTB), die für die Lagerung von Trägerraketen und Gefechtsköpfen sowie deren Zufuhr an die jeweils übergeordnete GSSD-Raketenbrigade zuständig waren. Und eben eine solche, die 11. BRTB mit der Feldpostnummer 11817, war um 1961/62 nach Altenhain versetzt worden. Diese diente der in Weißenfels stationierten und mit dem operativ-taktischen Raketen-Komplex 9K72 „Elbrus“ (US/NATO: SS-1c, „Scud B“) ausgerüsteten 11. Raketebrigade.
Ab 1961/62 stationierte in der „Muna“ Altenhain eine Bewegliche Raketentechnische Basis, die für die 11. Raketenbrigade der sowjetischen Armee „Scud“-Raketen und Gefechtsköpfe lagerte. (Foto: Sammlung Dirk Reinhardt)
Für die Spionageabwehr und die Überwachung der in der DDR dienenden Angehörigen der sowjetischen Armee, deren Familien und Zivilbeschäftigten waren so genannte „Osobisten“, nach der russischen Bezeichnung für die 3. Verwaltung der Sonderabteilungen des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR (KfS/KGB) bei der GSSD, verantwortlich. Allerdings konnten jene die Außensicherung ihrer Dienststellen alleine nicht gewährleisten. Deshalb übernahm das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) die „Tiefensicherung“. Jedoch war auch die damit beauftragte Hauptabteilung (HA) II (Spionageabwehr), insbesondere die HA II/4 (Militärspionageabwehr), nicht in der Lage, jedes Militärobjekt ständig personell abzusichern. So wurden nach sowjetischen Vorgaben entsprechende Schwerpunkte festgelegt, Analysen gefertigt und Maßnahmepläne erarbeitet.
Ausriss der MfS-Analyse über spionagegefährdete Schwerpunkte im Bezirk Leipzig vom Dezember 1969. (BStU, BVfS Leipzig, Abt. II, 00901)
Die Sicherung des GSSD-Munitionslagers Altenhain oblag der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit (BVfS) Leipzig mit ihrer Kreisdienststelle (KD) Grimma. Dass die frühere „Muna (Munitionsanstalt)“ wohl erst durch die hierher verlegte BRTB zu einem „Schwerpunktobjekt“ der Spionageabwehr im Bezirk wurde, belegen die heute zugänglichen Dokumente des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU). Mehrere Quartalsanalysen und darauf beruhende Arbeitspläne (BStU, BVfS Leipzig, KD Grimma, 00242-02) beschreiben ab 1962 die Umsetzung der Tiefensicherung sowie dabei auftretende Probleme. Unter anderem wurden die hier eingesetzten inoffiziellen Mitarbeiter (IM) anfänglich sogar „mit Hilfe der sowjetischen Freunde entsprechend untergebracht (vermutlich in innerhalb des Objektes und in Nähe des äußeren Zaunes befindlichen Gebäuden, d.A) und mit technischen Gegenständen ausgerüstet“. Weil die Absicherungen damals jeweils 2 bis 4 Wochen dauerten und oft nur zu besonderen Ereignissen stattfanden, befriedigte dies bald nicht mehr, „da damit keine systematische analytische Arbeit erzielt werden“ konnte. Zwar strebte die KD Grimma nach ständiger Absicherung, da die zeitlich begrenzten Maßnahmen später aber nochmals erwähnt werden, konnte das wohl nicht sofort umgesetzt werden. Doch das MfS intensivierte die Anwerbung von in Objektnähe wohnender IM. Gleichzeitig sollten auch die örtlichen Volkspolizei-Helfer geschult werden, „um diese mit… der Arbeit westlicher Geheimdienste vertraut zu machen und dadurch ihren Blick für evtl. Verdachtsmomente zu öffnen“.
Ausrisse aus MfS-Analysen und Maßnahmeplänen von 1962 und 1965 über Aufbau, Probleme und Planungen der “Tiefensicherung” zum
spionagegefährdeten Objekt “der Freunde” in Altenhain. (BStU, BVfS Leipzig, KD Grimma, 00242-02)
Die eingeleiteten Maßnahmen scheinen erfolgreich gewesen zu sein. Denn im Dezember 1969 kam eine Analyse (BStU, BVfS Leipzig, Abt. II, 00901) zu der für die Spionageabwehr positiven Feststellung, dass es für das Objekt in Altenhain, welches bis 1961 „vermutl. durch den Spion Vettermann angegriffen (wurde)“, seitdem „keine konkreten Hinweise auf Angriffe von imp. (imperialistischen, d.A.) Geheimdiensten“ gab.
Bisher ist unbekannt, wann genau und wodurch westliche Geheimdienste letztendlich doch Kenntnis von der in Altenhain stationierten raketentechnischen Einheit erhielten. Und ob diese aufklären konnten, dass hier, neben den Trägerraketen, ebenso die verschiedenen, insbesondere nuklearen Gefechtsköpfe vorgehalten wurden. Größere Neubauten hatte die Sowjetarmee dafür nämlich nicht errichtet. Raketen und Gefechtsköpfe wurden in nur innerlich (durch Luft- und Satellitenaufklärung von außen nicht sichtbar) umgebauten ehemaligen Wehrmachtsgebäuden eingelagert. Diese waren separat mit Stacheldraht- und Betonfertigteilzäunen sowie einem hölzernen Sichtschutzzaun umgeben und wurden durch nächtliche Lichtsperren, Posten- und Hundestreifen gesichert.
Rundumsicht! Verschiedenartig ausgeführte Wachtürme boten beste Sichtbedingungen, links am äußeren Zaun, rechts ein Turm am innersten Kreis. (Foto links: Theo Haferkorn, Foto rechts: Dirk Reinhardt)
Auch die DDR-Staatssicherheit wurde weder vom „sowj. Freund in Altenhain“ noch von höherer Führungsebene darüber unterrichtet, was man da eigentlich absicherte. In der oben genannten Analyse ist aber nachlesbar, dass das MfS dennoch über das „Sonderobjekt der Freunde“ selbst herausfand, dass dort „Raketen gelagert (sind),… vermutlich befinden sich im Objekt auch Raketenabschußbasen. Es ist durch einen dreifachen Zaun gesichert … Die 3. Zone… darf nur von Personal (der Raketeneinheit, d.A.) betreten werden“.
(Quelle: BStU, BVfS Leipzig, Abt. II, 00901)
Spitzelnde und Bespitzelte
Das kleine Altenhain, mit dem nördlich des Dorfes im Wald gelegenen Objekt der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, unterlag bis zum Ende des „Kalten Krieges“ westlicher Aufklärung. Genau das zu verhindern war Aufgabe der Spionageabwehr der Hauptabteilung II des Ministeriums für Staatssicherheit. Ein fast ähnlicher Auftrag oblag auch der Leipziger Linie der HA XIX (Verkehr, Post, Nachrichtenwesen). Jene war unter anderem für die Spionageabwehr bei der Reichsbahn und hier im Besonderen im Eisenbahn-Militärverkehr zuständig.
Hauptsächlich durch den „verdeckten Einsatz“ von Observationskräften aus inoffiziellen Mitarbeitern (IM) wollte das MfS erkennen, wo „Angriffe imperialistischer Geheimdienste“ am GSSD-Objekt ansetzten. Allerdings war die ab Anfang der 1960er Jahre den höheren Anforderungen entsprechend neu aufgebaute Spionageabwehr in Altenhain anfangs nicht effizient. Eine Analyse vom Dezember 1962 schätzt ein, dass die zwei bisher angesetzten IM ihre Aufgabe „nicht ernst genug nehmen bzw. berufstätig sind und demzufolge wenig Zeit für unsere Aufgaben aufbringen können“ (BStU, BVfS Leipzig, KD Grimma, 00242-2). Das sollte sich ändern. Um die zeitlich begrenzten Sicherungen zur ständigen Überwachung auszuweiten, musste das damals noch ungenügende IM-Netz verstärkt werden. Deshalb, so die Analyse weiter, wäre es sogar erforderlich, dauerhaft einsatzbereite Rentner als IM zu gewinnen.
Was deren konkrete Aufgaben waren, verdeutlicht der Maßnahmeplan zur „Absicherung der Truppenverschiebung“ vom März 1964 (BStU, BVfS Leipzig, KD Grimma, 00242-1). Diese „wird abgesichert durch die GI (Geheimer Informant, alter Name für IM, d.A.) ‚Turf’ und ‚Richard Schulze’. ‚Turf’: Abschnitt Gemeindeamt – Neubauernstraße. ‚Richard Schulze’: Abschnitt Bahnhof Altenhain. Durch GI ‚Turf’ ist besonders die Wohnung (…) unter Kontrolle zu halten. Die GI ‚Johannes’ und ‚Vorlauf (…)’ („Vorlauf“ bezeichnete Personen, die für eine konspirative Tätigkeit in Anwerbung standen, d.A.) werden von der Wohnung aus die Nachbargrundstücke unter Kontrolle halten. Hierbei muß der GI Johannes besonders die Wohnung von (…) unter Kontrolle nehmen.“
(Quelle: BStU, BVfS Leipzig, KD Grimma, 00242-01)
Da nicht nur dieser IM-Einsatz „zielgerichtet auf interessante Personen“ erfolgte, wird damit gleichzeitig deutlich, dass die Staatssicherheit potenzielle Spione unter den Einwohnern Altenhains vermutete. Das war nicht abwegig. Denn die Anlieger hatten aus ihren Häusern heraus einen relativ ungestörten, jederzeitigen Einblick in das Objekt oder Sicht auf dessen Verkehr.
Natürlich lagen dadurch die Genannten auch im Fokus westlicher Nachrichtendienste und begründeten die jetzt vom MfS eingeleiteten systematischen Überprüfungen. Darunter fielen, laut einer Analyse von 1964 (BStU, BVfS Leipzig, Abt. II, 00463-1), alle nahe des Objektes, dessen Zufahrten und dem Bahnanschluss wohnenden Personen der Neubauern-, Wurzener und Bahnhofsstraße sowie einige Anlieger der Polenzer und Trebsener Straße. Hinzu kamen die Personen, die in der Nähe des Objektes arbeiteten bzw. limitierten Zugang hatten, wie die Mitglieder der LPG, die Arbeiter der Betriebe im Steinbruch, Schornsteinfeger, Forstarbeiter sowie die Mitarbeiter von Handwerks- und Baubetrieben, Strom- und Wasserversorger. MfS-intern wurde dies als „Analyse der Objekt-Umweltbeziehungen“ bezeichnet. Ein Dokument der HA XIX (BStU, BVfS Leipzig, XIX, 00916) ergänzt dazu siebzig von dieser Linie überprüfte Personen, von denen „20 Westverbindungen“ hatten, einer ein (West)-„Rückkehrer“ war und drei weitere Personen „Vorbestrafte“.
Systematisch analysierte das MfS die Spionagegefährdung für das sowjetische Militärobjekt in Altenhain.
(Quelle: BStU, BVfS Leipzig, XIX, 00916)
Die Aufklärungsmaßnahmen waren vielfältig. Neben der Post- und Telefonüberwachung wurden auch berufliche „Reisekader“ sowie private Besuchsreisende aus und nach dem so genannten „Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“ “ausgekundschaftet”. So erwähnt denn auch ein Bericht von 1967 (BStU, BVfS Leipzig, KD Grimma, 00242-1), dass bei der„systematischen Aufklärung der Einwohner… bekannt (wurde), daß ein in den USA lebender Sohn seinen Vater seit 1961 mehrmals in Altenhain besucht hat“. Alle Genannten stellten, nach MfS-Lesart, potenzielle Geheimdienstziele oder schon mutmaßliche Spione dar.
Waren 1964 die IM „Johannes“, „Richard Schulze“ sowie die zwei IM-Vorläufe „Lässig“ und „Lommatzsch“ in der „Tiefensicherung“ des GSSD-Objektes Altenhain installiert, konnte die MfS-Kreisdienststelle Grimma bis 1966 das informelle Netz auf sieben IM ausbauen. Eine Aufstellung von 1971 benennt nachfolgende IMS (IM zur Sicherung eines Objektes) der Linie II: „Johannes“, „Rolf“, „Heidi“ und „Vorlauf Klaus“. Zur Linie VII (Ministerium des Innern, Volkspolizei) gehörte „Turf“, zur HA XVIII (Volkswirtschaft), die den Altenhainer Forst absicherte, IMS „Richter“. Das Netz leitete ein FIM (Führungs-IM) mit dem Decknamen „Kurt Vogel“.
In den 1960er Jahren wurde vom MfS das „Netz“ aus Inoffiziellen Mitarbeitern in Altenhain kontinuierlich ausgebaut. 1971 arbeiteten
(ohne diejenigen bei der Eisenbahn) bereits 7 IM für die Spionageabwehr. (Dokumentenausriss: BStU, BVfS Leipzig, KD Grimma, 00242-01)
Jedoch gerieten nicht nur die Anwohner in die Mühlen der Staatssicherheit, sondern auch die am Altenhainer Bahnhof tätigen Eisenbahner. Ob Lokführer, Fahrdienstleiter oder Rangierer – bei allen, die mit Militärzügen zu tun hatten, wurde die politische Zuverlässigkeit geprüft. Zudem gab es reichsbahninterne Belehrungen zu den Dienstvorschriften für Militärtransporte und die involvierten Reichsbahner mussten entsprechende Geheimhaltungsverpflichtungen unterschreiben. Zusätzlich warb das MfS auch innerhalb der Belegschaft IM an, um die Sicherheitsvorkehrungen überwachen und Spione unter den Eisenbahnern möglichst früh enttarnen zu können.
1963 hielt die Bezirksverwaltung Leipzig (BStU, BVfS Leipzig, Leitung, 00951) zur Bahnstation Altenhain fest, dass unter den 12 Beschäftigten ein IM tätig sei und „eine verdächtige Person im op. Material ‚Einblick’ wegen Verdacht der Spionage bearbeitet (wird). Eine angefallene Person, welche bis 1961 in einem Operativ-Vorgang bearbeitet wurde, steht unter operativer Kontrolle.“ Und an dieser Situation sollte sich bis Ende 1989 grundlegend auch nichts ändern.
Nicht nur die Anwohner wurden durch das MfS systematisch analysiert. Äußerst genau hielt man ebenso die „operative Situation“ bei der Eisenbahn im Blick. (Dokumentenausrisse oben: BStU, BVfS Leipzig, AOP 1708-65 1, unten: BStU, BVfS Leipzig, Leitung 00951)
Die im Dunkeln sieht man nicht…
„24.10.84. Im Absicherungsabschnitt Altenhain wurden keine Personen festgestellt, die sich für den M-Transport interessierten. MVM und … auch die S.-Personen ‚Stuhl’, ‚Tatra’ und ‚Bahnhof’ (traten) nicht in Erscheinung.“ So resümierte „ZB(Zugbegleit)-Verantwortlicher“ Scheffler am 24. Oktober 1984 in seinem Bericht über die stattgefundene Absicherung eines militärischen Sonderzuges an seine vorgesetzte Dienststelle, die Hauptabteilung XIX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig (BStU, BVfS Leipzig, Abt. XIX, 00413-1). Der „M-Zug“, Dg 86946, hatte am gleichen Tag um 17:30 Uhr den Bahnhof Altenhain erreicht und wurde wenige Minuten später zur Wagenübergabestelle des Anschlussgleises der hiesigen „Muna“ rangiert. Den Transport der Waggons ins Innere des abgeschirmten Munitionslagers übernahmen sowjetische Soldaten mit ihrer eigenen Rangierlok.
Oben: Der Bericht über die Absicherung des militärischen Sonderzuges vom 24. Oktober 1984 an die Hauptabteilung XIX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig (BStU, BVfS Leipzig, Abt. XIX, 00413-1)
Unten: Die am Bahnhof Altenhain für das GSSD-Objekt eintreffenden Güterzüge wurden von deutschen Eisenbahnern meist nur bis zur Wagenübergabestelle (Wüst) rangiert. Den Transport im Innern des Munitionslagers übernahmen Sowjetsoldaten mit der eigenen Rangierlok, hier auf einem Foto Anfang der 1980er Jahre. (Plan: BStU, BVfS Leipzig, XIX 00916; Foto: Eldar Schachwaladow)
Außer dem genannten fand sich in den Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit noch ein weiterer Bericht über die „gedeckte Absicherung“ eines ähnlichen Zuges nach Altenhain. Am Morgen des 17. März 1984 war dieser mit der Zug-Nr. Dg 88961 eingetroffen. Vordergründig scheint es der Spionageabwehr darum gegangen zu sein, anhand der Güterzüge aufzuklären, ob und wer sich dafür interessiert. Vermutet wurden einerseits also die MVM, die drei westlichen Militärverbindungsmissionen der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Diese betrieben seit 1961 verstärkt Militärspionage, denn aufgrund ihres im Vier-Mächte-Abkommen begründeten Kontroll-Status durften sie sich relativ frei im Territorium der DDR bewegen. Andererseits wollte das MfS wohl auch gegen die, der Spionage verdächtigten so genannten „S.-Personen“ weitere Beweise sammeln. Gleichzeitig wurden bei der Absicherung andere Auffälligkeiten sowie die Kennzeichen vorbeifahrender Fahrzeuge notiert. Wahrscheinlich war diese Arbeitsweise seit den 1950er Jahren, als man herausfand, dass sich West-Spione für die Militärtransporte der GSSD interessierten, ein probates Mittel der Spionageabwehr.
Die 1984 überwachten „M-Züge“ selbst schienen reine Nebensache. Und an sich waren sie auch nichts Außergewöhnliches in Altenhain. Zwar kam es nicht so häufig vor, dass Züge direkt aus der Sowjetunion kamen, aber es war auch nichts Neues. Schließlich wurden jene schon seit 1945 für die Sowjetarmee durch die Reichsbahn befördert. Die sowjetischen Waggons waren im Profil breiter und im UdSSR-Grenzbahnhof Brest hatte man deren 1520-mm-Breitspur-Drehgestelle gegen europäische der hier üblichen 1435-mm-Norm getauscht. Unbekannt ist, was die zwei Züge transportierten oder ob es noch einen anderen Grund gab, diese zu sichern. Denn einige der M-Transporte waren schon etwas Besonderes.
Woran sich auch Augenzeuge Horst Liebing erinnert: „Es war während meiner Berufsschulzeit in Leipzig, 1961/62. Zur Heimfahrt nach Grimma benutzte ich immer den Zug ab Leipzig 15:40 Uhr. Eines Tages fuhr unser Zug ungewohnt langsam in Borsdorf ein. Neben uns stand ein Güterzug nach Beucha. Auf den ersten Blick ein Holztransport, doch beim genauen Hinsehen ging ein zweiadriges Kabel von Wagen zu Wagen, das Ladegut der offenen Wagen war mit Planen zugedeckt und mit rohem Schnittholz verschalt. Auf den Bremserbühnen standen russische Soldaten mit Maschinenpistolen. An den Wagen waren keine Pulverflaggen.“
Die genannte „Pulverflagge“ war bei Munitionstransporten vorgeschrieben. Dazu wurde an beiden Längsseiten der Güterwagen eine viereckige schwarze Flagge oder ein Blechschild mit weißem „P“ angebracht. Die in einzelnen Wagen oder -gruppen beförderte Munition lief dann, zwischen einigen Schutzwagen, in Reichsbahn-Nahgüterzügen nach oder von Altenhain. Was Horst Liebing damals sah, war also kein Munitionszug. Jedoch werden offene Güterwagen mit Holzdeckung in militärischen Dienstanweisungen beschrieben – für Raketentransporte! So war der gesehene Güterzug vermutlich einer der ersten getarnten Transporte von Raketen zur Raketentechnischen Basis in Altenhain! Es gibt zwar auch Hinweise über solche Transporte in getarnten „Reisezugwagen“ der sowjetischen Staatseisenbahn, allerdings ist unklar, ob man diese in der DDR einsetzte. Bevorzugt wurden wohl die offenen Wagen. Aus denen man, nach Entfernung der Holztarnung, die darunter liegenden Raketen mit einem Kran relativ einfach ausladen konnte. Das „Umladen von Raketenträgern und Gefechtsköpfen aus Eisenbahnwagen“ gehörte zu den normierten und oft geübten Aufgaben einer BRTB.
Oben: Im offenen Güterwaggon verladene „Importerzeugnisse“ – Trägerraketen 8K14, hier allerdings für einen NVA-Standort. Die Raketen waren wasserabweisend verplant. Obendrauf kam eine Ladung Schnittholz, die hier schon entfernt wurde. (Fotoarchiv der RTeB-2)
Unten: Ähnlich wie hier bei der Nationalen Volksarmee der DDR dürfte auch die Entladung der 8K14-Raketen („Scud“) in Altenhain
vonstatten gegangen sein. Mit einem Kran werden die gefechtskopflosen Trägerraketen aus dem offenen Reichsbahnwagen gehievt.
(Fotoarchiv der RTeB-2)
Doch neben Raketentransporten wurden noch speziellere M-Züge in Altenhain abgefertigt. Von der Reichsbahn als „Transporte mit erhöhten Anforderungen an Sicherheit und Geheimhaltung“ bezeichnet, war vor allem an deren Abwicklung auffallend, dass diese Züge nur bei Dunkelheit ankommen oder abfahren durften. Ankunft zwischen 22 (bzw. 19 Uhr im Winter) und 4 Uhr sowie Abfahrt zwischen Mitternacht und 6 Uhr war eine sowjetische Forderung. Vermutlich um westliche Luft- und Satellitenaufklärung zu verhindern oder Sichtbeobachtungen durch die MVM. Aufgrund der hohen Geheimhaltung wurden die nächtlichen M-Züge auch nur sehr kurzfristig dem hiesigen Bahnpersonal gemeldet. Zudem, so erinnerten sich einige der Eisenbahner, musste vor Eintreffen der Züge die Bahnhofsbeleuchtung abgeschaltet werden. Gedanken machten sie sich natürlich, zumal es keinerlei Information zur Fracht der Güterwagen gab. Selbst das MfS wusste nichts davon, obwohl der Kreisdienststelle Grimma „nächtliche Transporte“ in Altenhain seit spätestens 1965 bekannt waren. Einen Spitznamen erhielten diese seltsamen Züge hier übrigens nicht, der Volksmund andernorts nannte sie treffend „Dunkelmänner“.
Im Dunklen – Anschlussweiche 7, Bahnhof Altenhain. (Foto: Dirk Reinhardt)
Dunkelmann’s Fracht
Was wurde aber nun eigentlich mit diesen nächtlichen Militär-Sonderzügen transportiert? Worüber waren weder die Eisenbahner, noch das Ministerium für Staatssicherheit eingeweiht? Leider beruht das heutige Wissen auf noch immer teilweise unbestätigten Informationen und Indizien.
Ab Ende der 1970er Jahre modernisierte die UdSSR ihre Raketenwaffe. Das betraf auch die bei der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in der DDR (GSSD) stationierten taktischen und operativ-taktischen Systeme. Dabei sollte unter anderem die über zwanzig Jahre alte „Elbrus“ (SS-1c/Scud B) durch die treffgenauere und weiterreichende „Oka“ (SS-23/Spider) ergänzt und später ersetzt werden. Allerdings verzögerte sich deren für Anfang der 1980er Jahre geplante Stationierung. Nach gegenwärtigem Forschungsstand erhielt die Raketenbrigade Weißenfels als erste GSSD-Einheit die SS-23 wahrscheinlich ab September 1986. Diesen Zeitpunkt legen zumindest einige verzeichnete M-Transporte sowie Berichte des Bundesnachrichtendienstes zu den Raketenabteilungen der Brigade in Jena-Forst nahe. Aussagen sowjetischer Soldaten, das diese erst ab 1987 an der „Oka“ gedient haben, scheinen das zu bestätigen.
Bereit zum Start – operativ-taktisches Raketensystem OTR-23 9К714 “Oka” (SS-23/Spider), 2007 im bulgarischen Armee-Museum in Sofia fotografiert. (Foto: Wikipedia / Aleksander Dragnes)
Mit den Raketen wurden, neben den konventionellen, ebenfalls die „speziellen Erzeugnisse“ – so die russische Umschreibung für Kernsprengköpfe – getauscht. Dieser Wechsel erfolgte bei der sicherstellenden raketentechnischen Basis in Altenhain wahrscheinlich mit „besonders geheim zuhaltenden Zügen“ zeitnah am 20./24. Oktober 1986.
In der Logistik der Stationierung sowjetischer Atomwaffen auf ostdeutschem Boden, nahmen die „Militärtransporte mit besonderem Sicherheits- und Geheimhaltungsbedürfnis“ wohl eine bedeutende Rolle ein. Möglich erscheint ebenso, dass sich dabei die Handhabungsabläufe von der ersten Verlegung in die DDR 1958 bis zum Abzug der letzten Raketeneinheit 1991 kaum änderten. Dafür sprechen der Augenzeugenbericht von 1961/62 und ähnliche Erinnerungen späterer Zeit. Die MfS-Dokumente belegen detailliert erst ab 1982 die besonderen M-Züge. Jedoch bekundet ein Bericht vom Oktober 1989 (BStU, MfS HA XIX, 8596), dass die Deutsche Reichsbahn (DR) „seit über 15 Jahren derartige Sondertransporte unverändert“ durchführte.
Unverändert hieß, dass die speziellen Züge aus der UdSSR über die Strecke Moskau-Warschau-Berlin liefen. Am DDR-Grenzbahnhof Frankfurt/Oder wurden sie von der dortigen sowjetischen Transportkommandantur zur Weiterleitung vorbereitet, wobei man aus dem angekommenen Zug meistens Teiltransporte für die jeweiligen GSSD-Zielbahnhöfe bildete. Die Kommandantur unterstand der so genannten „Woso“ (russ. Kürzel für Verwaltung des Militärtransportwesens beim Oberkommando der GSSD). Diese hatte ein paar Tage zuvor der Hauptabteilung „Spezielle Transport- und Bauaufgaben“ des DDR-Ministeriums für Verkehrswesen Ankunft und Ziele der Sonderzüge avisiert sowie Auflagen erteilt. Dazu gehörte die Gestellung von leeren und verplombten gedeckten Güterwagen (Ga) der Deutschen Reichsbahn als Schutzwagen, je vier am Zuganfang/-ende, sowie eines Hkm-Mannschaftswagens für das bewaffnete Begleitkommando. Die wichtigste Forderung blieb die Ankunft der Züge am Zielort bei Dunkelheit. Als Lokführer wurden nur geschulte und politisch unbedenkliche Reichsbahner, so genanntes „Listenpersonal“, eingesetzt. In die jeweiligen Frachtunterlagen durfte keiner von ihnen sehen, erst recht nicht in die Waggons selbst.
Leider gibt es zu diesen Transporten nur einen einzigen bildlichen Beweis, den das MfS im Zuge einer dahingehenden Aufklärung anfertigen ließ. Danach, sowie in den Erinnerungen ehemaliger Eisenbahner, waren die eingesetzten Waggons umgespurte 4-achsige Ga-Wagen der sowjetischen Staatseisenbahn SZD. Von den äußerlich teilweise schäbig aussehenden Güterwagen durfte man jedoch nicht auf deren inneren Zustand schließen. Denn im Tarnen erreichte die sowjetische Armee wahre Meisterschaft. Und im Hinblick auf Nuklearwaffen galten ohnehin professionelle Sicherheitsrichtlinien und absolute Disziplin.
Oben: So dürften sie ausgesehen haben: Die „Militärtransporte mit besonderem Sicherheits- und Geheimhaltungsbedürfnis“ aus 4-achsigen
gedeckten Güterwagen der sowjetischen Staatseisenbahn, die nur nachts das kleine sächsische Dörfchen Altenhain ansteuerten.
Unten: Auch bei der SZD kamen gedeckte Güterwagen in verschiedenen Formen und für unterschiedlich hohe Traglasten zum Einsatz.
(aus: “Güterwagen… der Eisenbahn der UdSSR”, 1955)
Noch sind die russischen Dokumente hierzu streng geheim, dennoch finden sich vereinzelt Hinweise. So belegt ein bereits 1963 von der CIA übersetzter sowjetischer Bericht den Transport von jeweils 10 – 12 Gefechtsköpfen für „Scud“-Raketen in einem 4-achsigen Güterwagen. Und die „инструкцию по перевозке специальных грузов Ж/Д транспортом (Instruktion zum Eisenbahntransport von Spezialfrachten) УН-64дсп-І.Ж2“ von 1986 beschreibt sogar, wie die Gefechtsköpfe in den Waggons befördert werden mussten.
Für die „Oka“-Raketen gab es zwei Typen von Atomsprengköpfen, den 375 kg schweren „9Н74Б (9N74B)“ (Kernladung AA-75) mit 10 – 50 kT TNT-Äquivalent und den 455 kg-„9Н63 (9N63)“ (AA-92, 100 – 200 kT). Beide wurden im 3 m langen, stählernen Container „9Я252 (9Ja252)“ transportiert, der einen mechanischen und klimatischen Schutz bot.
Unten: „Oka“-Gefechtskopf im geöffneten stählernen Container „9Я252 (9Ja252)“.
Die ca. 1 t schweren Gefechtskopfcontainer wurden in „normalen“ Ga-Wagen befördert, aber auch in offenen Wagen sowie in den speziell entwickelten SZD-Güterwagen-Typen WG-124, W-60 und W-60M. Die Zahl der verfrachteten Kernwaffen variierte nach Wagentyp und Verladung. Ruhten die Gefechtsköpfe nur in den mit Kufen versehenen Containern, durfte beispielsweise ein Ga-Wagen mit 6 Gefechtsköpfen beladen werden (siehe nachstehend, Schema 2). Lagen die Container dagegen auf dem vierrädrigen „Teleschka“ (Transport- und Lagerwagen „9T114“), konnte ein Waggon lediglich 3 Gefechtsköpfe aufnehmen (siehe nachstehend, Schema 1).
(Abbildung aus: “Instruktion zum Eisenbahntransport von Spezialfrachten УН-64дсп-І.Ж2”, 1986)
Doch auch die Staatssicherheit fand noch heraus, was da mit der Reichsbahn rollte. Ab 1984 forderte die GSSD erstmals „offiziell“ eine gedeckte Absicherung derartiger Züge durch das MfS. Bei einer solchen Sicherung 1988 erfuhr jenes zufällig deren eigentlichen Zweck und stellte „durch zielgerichtete analytische Maßnahmen und operativ-technische Überprüfungen (u.a. Kernstrahlungsmessungen, d.A.)“ fest, dass die Sowjetarmee „jährlich mehrmals Transporte von Nuklearwaffen“ in der DDR durchführte (BStU, MfS HA II, 24232).
Der Zug endet hier!
Am Schluss dieser “Geschichte” über Geheimdienste, sowjetische Nuklearwaffen und nächtliche Eisenbahntransporte ins sächsischen Dörfchen Altenhain, fehlt nur noch, wie all das endete.
Dass zu den „besonderen Eisenbahntransporten“ umfassende Informationen existieren, könnte darauf beruhen, dass die Hauptabteilung II der Staatssicherheit 1984 erstmals von sowjetischer Seite in die gedeckte Sicherung dieser Transporte einbezogen wurde. Grund war die neue Situation, die sich mit der damals begonnenen Verlegung weiterer Raketeneinheiten in die DDR, als „Antwort“ auf den 1979er NATO-Doppelbeschluss und die Neuaufstellung von „Pershing II“-Raketen und „Cruise Missile“-Marschflugkörpern in Westeuropa und der BRD ab 1983, ergab. Natürlich sah man sowjetischerseits eine noch intensivere Spionage westlicher Geheimdienste, inklusive Militärverbindungsmissionen, zu den neu in der DDR stationierten „Temp-S (SS-12)“-Raketen voraus und rechnete damit vor allem an den für den Verkehr wichtigen Eisenbahnknoten, -strecken sowie Bahnhöfen mit Militäranschlussgleisen.
Mit den von der ostdeutschen Spionageabwehr hierzu realisierten „koordinierten politisch-operativen Maßnahmen“ und daraus gezogenen weiteren Schlussfolgerungen, begann dann wohl eine eigenständige Aufklärung. Als hilfreich erwiesen sich besonders die in Dispatcherzentralen und anderen Reichsbahn-Dienststellen platzierten Informellen Mitarbeiter, die angemeldete M-Züge an die HA II oder XIX weitergaben. Wobei der 1988 zufällig erfahrene Zweck einiger dieser speziellen Züge sogar zu Überprüfungen mit Kernstrahlungsmessungen führte. Offenbar diente die Frage, ob westliche Geheimdienste gleiche Erkenntnisse gewinnen könnten, als Begründung. Das lag nach Hinweisen, dass US-Dienste hochwertige, sehr gut getarnte, automatische Aufklärungssonden an Objektzufahrten einsetzten, nahe. Die Sonden registrierten neben Fahrzeugbewegungen wohl auch Kernstrahlungen und funkten die gesammelten Daten per Satellitenverbindung. Bis 1989 wurden einige dieser „technischen Spione“ tatsächlich gefunden.
Dann trat am 11. März 1985 Michail S. Gorbatschow an die Partei- und Regierungsspitze der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken und leitete das Tauwetter im „Kalten Krieg“ ein. Wirtschaftlich in der Enge sowie die immer gefährlicher werdende Konfrontation mit dem Westen einschätzend, bot Gorbatschow eine weitreichende atomare Abrüstung an. Nach langen Verhandlungen unterschrieb er zusammen mit US-Präsident Ronald Reagan am 8. Dezember 1987 den INF-Vertrag. Der als erste wirkliche Abrüstungsvereinbarung am 1. Juni 1988 in Kraft trat und die Vernichtung aller bodengestützter Flugkörper von 500 bis 5500 km Reichweite, ihrer Trägerraketen sowie deren Produktionsverbot vorsah. Ebenso wurde das Raketensystem „Oka“ in die Abrüstungsmaßnahmen einbezogen. Allerdings hatte kurz vor Vertragsabschluß eine durch die britische Militärverbindungsmission BRIXMIS bei Jena fotografierte SS-23-Startrampe für Überraschung gesorgt: Bis dahin wusste niemand in der NATO, dass jene bei den sowjetischen Streitkräften in der DDR stationiert worden war.
Oben: Eines von 17 der ersten Fotos einer SS-23 bei den sowjetischen Truppen in der DDR, aufgenommen vom BRIXMIS-Team unter Mike Hill auf dem Übungsgelände bei Jena, vermutlich Anfang 1987. Allerdings dachten die englischen Militäraufklärer zunächst eine “Totschka” (SS-21/Scarab) fotografiert zu haben, bis den Auswertern auffiel, daß die Startrampe ja vier- und nicht dreiachsig war.
(Bildschirmscan von Roland Woiciechowski -in memoriam-; Text-Auszug aus: “BRIXMIS In The 1980s: The Cold War’s ‘Great Game'”, Major General Peter Williams)
In der Zeit vom 27.07. bis 14.08.1988 wurden die Startrampen und Trägerraketen der 11. Raketenbrigade in Weißenfels und Jena-Forst zur Vernichtung ins kasachische Saryozek abgefahren. Auch von und nach Altenhain rollten erneut Züge. Schon am 20. Juli war in Frankfurt/Oder ein Zug der sowjetischen Staatseisenbahn SZD mit 10 leeren Ga-Wagen für Altenhain eingetroffen. Hier kam der Militärtransport noch am gleichen Tag um 23:42 Uhr an. Am 23. Juli um 3:15 Uhr verließ der Zug Dg 85955, jetzt voll beladen, den Bahnhof in Richtung UdSSR. Nach allen Indizien und der Anmerkung im MfS-Bericht (BStU, MfS HA XIX 8596), dass dies ein „Transport von ‚scharfem Zubehör‘ für Raketen“ war, kann man davon ausgehen, dass jener die „Oka“-Atomsprengköpfe abtransportierte.
Mit Inkrafttreten des INF-Vertrages zwischen der UdSSR und der USA wurden auch die modernen „Oka“-Raketen (SS-23), die erst kurz zuvor in der DDR stationiert worden waren, abgerüstet und in Saryozek (Kasachstan) vernichtet. Der M-Zug, der dazu wohl die zugehörigen Kerngefechtsköpfe am 23. Juli 1988 um 3:15 Uhr von Altenhain ab-fuhr, wurde ebenfalls in den Akten der Staatssicherheit erfasst. (Dokumentenausrisse: BStU, MfS HA II, 23326; HA XIX 8596)
Das bedeutete allerdings nicht, dass die Altenhainer Garnison jetzt atomwaffenfrei war. Im Gegenteil, denn die „Austauschprodukte“ kamen schon mit dem nächsten Sonderzug. Dieser Transport (Dg 85960 aus 5 SZD-Ga-, 1 Hkm- und 8 DR-Ga-Wagen) erreichte Altenhain am 29. Oktober um 21:18 Uhr. An den Rücktransport wurden „durch die GSSD keine besonderen Forderungen gestellt“ – da dieser leer in die Sowjetunion zurück fuhr (BStU, MfS HA VIII, 7373). Bei dem nach Altenhain gebrachten Ladegut handelte es sich vermutlich um früher schon hier gelagerte „Scud“-Kerngefechtsköpfe. Denn Anfang Dezember war auch die 11. Raketenbrigade wieder mit diesem Raketensystem ausgerüstet. Die im Wald nördlich Altenhains „neu“ deponierten Gefechtsköpfe vom Typ „9Н33 (9N33)“ – Kernladung RA-104 bzw. RA-17 – ermöglichten Nuklearschläge von 20 bis thermonuklearen 500 kT TNT-Äquivalent.
Der INF-Vertrag wird heute mitunter als Ende des „Kalten Krieges“ angesehen. Doch erst die „Glasnost“- und „Perestroika“-Politik Gorbatschows ermöglichte die „friedliche Revolution“ 1989/90 in der DDR. Welche letztlich zur deutschen Wiedervereinigung und zum Abzug der sowjetischen Truppen bis 1994 führte. Schon im Sommer 1991 hatten die 11. Raketenbrigade sowie die unterstellte raketentechnische Basis das Territorium der DDR verlassen und ins 2600 km entfernte Maikop verlegt.
Da aber bis zum 31. März 1990 das, durch die Modrow-Regierung im November 1989 noch in „Amt für Nationale Sicherheit“ umbenannte MfS aufgelöst worden war, blieben verständlicherweise die Abzugstransporte unbeachtet – von dieser Seite zumindest. Denn ein Altenhainer erinnert sich, „im August/September 1990… einen von Russen bewachten Spezialzug“ am Bahnhof Ammelshain gesehen zu haben, der vorher „in der Muna war“. Hatte er damals die Rückführung der Kernwaffen beobachtet? In den vorangegangenen dreißig Jahren wäre er damit Zielperson aller Geheimdienste geworden.
Der deutsche Schriftzug am Bahnhofsgebäude diente vielen sowjetischen Raketensoldaten für Erinnerungsfotos. Spätestens ab Sommer 1991 waren Nuklearwaffen in Altenhain endgültig Geschichte. (Foto: Oleg Schurkin, ok.ru)
Vielen Dank an:
Ulrike Wilkens (BStU Leipzig)
Matthias Karthe
Klaus Stark
Horst Liebing
Jörg Hertwig
Birgit Schöppenthau (LVZ-Muldentalzeitung)
in memoriam Roland Woiciechowski
sowie an alle sowjetischen Veteranen aus Altenhain und an die früheren hiesigen Eisenbahner, die ihre Erinnerungen offenbarten!
Die obenstehende “Geschichte” gehört unter anderem zum Inhalt u.a. Broschüre.
Da ich aus Brandis stamme.Meine Kindheit und Jugendzeit dort verlebte ist mir die ganze Umgebung nicht unbekannt.Da unser Wohnhaus in der
unmittelbaren Nähe des Bahnhofs Brandis steht sind mir M-Transporte sehr oft aufgefallen.Aus diesen Gründen habe ich diesen Bericht mit
Interesse gelesen.Wenn das der Inhalt der vom Heimatverein herauzugebenden Broschüre betrifft ist diesem Verein ob der sicher nicht
einfachen Recherchen herzlich zu gratulieren.Da ich auch im Besitz des Heftes über die Entwicklung des Flugplatzes Polenz bin,wäre ich
an dieser Brüschüre auch interessiert.Vielleicht ist es möglich unter meiner angegebenen E-Mail Adresse mir ein entsprechendes
Angebot zu machen.Herzlichen Dank W.klaus
Hallo Herr Klaus,
vielen Dank für diesen Kommentar! Sie haben Recht, die Recherchen waren nicht einfach und sie waren insgesamt auch langwierig. Und natürlich wird das Ganze sicher nicht der letzte Stand der Geschichte bleiben…
Die “Dunkelmann-Geschichte” ist eine von insgesamt vier in der Broschüre. Wenn Sie sich auch für Wurzen interessieren -auch darüber findet sich etwas. Die Broschüre ist ab dem 6. Mai erhältlich. Preis, Stand meines letzten Wissens, 7,90 € (zuzüglich evtl. Versand).
Grüsse Dirk Reinhardt
PS: Da Sie sich für Brandis-Waldpolenz interessieren, ist Ihnen wohl auch meine 10-teilige LVZ-Serie zur sowjetischen Besatzungszeit des Flugplatzes bekannt?
Werter Herr Reinhardt
Vielen Dank für ihre Antwort.Vielleicht wäre es ihnen möglich mir noch die Bezugsmöglichkeit der Broschüre mitzuteilen(evtl.Verlag usw.).
Bezüglich ihrer PS.Leider ist mir die LVZ Serie nicht bekannt,da ich inzwischen in der Nähe von Kamenz wohne bin ich kein Leser der
Zeitung mehr.Für ihre evtl. Bemühungen besten Dank.Mit freundlichen Grüßen W.Klaus
Die Broschüre kann ab dem 6. Mai bezogen werden über den Verein oder direkt bei mir. An anderen Möglichkeiten arbeiten wir noch, da sozusagen im Eigenverlag und -vertrieb. Einfach eine Email an mich (siehe im Impressum) mit Postanschrift usw. Ich schicke dann eine Bestätigungsmail mit der Kontonummer und dem zu zahlenden Betrag (wohl in der Regel 7,90 € + Versandkosten 1,50 €).
Ich suche Informationen ( Fotos, Unterlagen, Namen ) über die 77. Raketenbrigade der GSSD, welche ab 1958 in Weißenfels stationiert war.
Hier interessiert mich besonders der Zeitraum 1959/ 1960!
Hallo Hr. Gludau,
dazu kann ich momentan nur hierauf verweisen:
http://www.hidden-places.de/showthread.php/7367-Wei%C3%9Fenfels-11-Raketenbrigade/page3
Hallo Herr Reinhardt!
Ich bin an der Broschüre sehr interessiet ,da mein Bruder einige Zeit in Altenhain gewohnt hat und wir aus Seelingstädt stammen.Ich sehr gestaunt was so in der Muna los war.Hätte gern 2 Broschüren wenn noch welche erhätlich sind.
vielen Dank für ihre Bemühungen
mit freundichen Grüßen Ines Pötzsch